190 mehr Arbeit zu liefern, als sie deren von ihnen in der Form des Arbeitslohns zuriickempfangen. Diese Tatsacbe ist zn offenkundig, nm eines Beweises zu bediirfen. Aber ibre Geltung fur das Yerstandnis der sozialen Yerhaltnisse des berrschenden 'Wirtschaftssystems ist nicbt so von vomberein klar. So ist z. B. Bohm-Bawerk durcb den Bemsteinscben Hinweis auf die Tatsacbe der Mehrarbeit durcbaus nicbt befriedigt. „ Offenbar konnte man“ — sagt er — „mit genau derselben Scblufsweise, die Pbysiokraten nocb iiberbietend, aucb beweisen, dafs die ganze iibrige Menscbbeit von einer Ausbeutung der land- wirtscbaftlicben Klassen lebt; denn scbliefslicb ist es Tat sacbe, dafs von den Bodenprodukten, welche die landwirt- scbaftlicben Arbeiter bervorbringen, aucb eine Menge anderer Leute mit erbalten wird 1 . 11 Ein russiscber Nationalokonom Frank bemerkt mit scbeinbarem Recht, dafs „wenn der eine Teil der Gesellscbaft dem anderen mebr Arbeit gibt, als er zuriickempfangt, so gibt der andere Teil dem ersten mebr Kapital und mebr Boden, und wir konnen mit dem- selben Recbte bebaupten, dafs die Arbeiter das Mebrkapital oder den Mebrboden derjenigen gesellscbaftlicben Kbassen aneignen, durcb welche ibre Mehrarbeit angeeignet wird “ 2 . Zur Produktion sind sacblicbe Produktionsfaktoren — Boden und Kapital — ebenso unentbehrlich wie Arbeit. Jeder von diesen Produktionsfaktoren gehort einer be- sonderen Gesellscbaftsklasse an. Es scheint also ganz natiirlich, dafs jede Klasse einen Anted am gesellscbaft licben Produkte erbalt und der Begriff der Mehrarbeit, obscbon formed richtig, scheint ebenso nutzlos und inbalts- leer zu sein, wie etwa die Begriffe des Mehrkapitals und Mebrbodens. Nun berubt, meines Eracbtens, diese ganze Betracbtungs- weise auf volliger Yerkennung des Kerns der Sacbe. Boden 1 Bohm-Bawerk, Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien, 1900. Zweite Auflage. S. 550. 2 Frank, Marxsche Werttheorie. Russisch, 1900, S. 151. 191 und Kapital sind freilich ebenso unentbebrlich fur die Pro duktion wie Arbeit. Das gilt aber nicbt vom Grundeigen- tumer und Kapitalisten: aucb in den Handen des Arbeiters wiirden Boden und Kapital ibre produktiven Eigenscbaften bewabren. Der Kapitalist gibt dem Arbeiter sein Kapital — ein aufseres Ding, welcbes keinen Teil seiner eigenen Person ausmacbt, wabrend der Arbeiter dem Kapitalisten seine Arbeit gibt, also sicb selbst, seine eigene Person. Arbeit und Kapital oder Boden sind inkommensurabel, weil der Arbeiter ein Recbtssubjekt ist, menscblicbe Per- sonlicbkeit, also Zweck fur sicb, wabrend Kapital und Boden blofse Objekte, wirtscbaftlicbe Mittel bilden. Die Tatsacbe der Aneignung der Mehrarbeit weist also auf den sozialen Zwang bin, auf die Unterjocliung einiger Gesellscbaftsklassen durcb die anderen, denn nur gezwungen kann der Mensch seine Lebenskrafte fur die Hebung des wirtscbaftlicben Woblstandes der Personen anderer sozialer Klassen auf- wenden. Die Aneignung der Mehrarbeit beweist also, dafs die durcb modeme Kechtsanschauung anerkannte Gleich- berechtigung aller Staatsangehorigen durcb das herrscbende "Wirtscbaftssystem vereitelt wird. n. Das arbeitslose Enikommen und die Aneignung der Mehrarbeit durcb die Nicbtarbeitenden sind dieselbe soziale Erscheinung von verscbiedenen Seiten aus betracbtet. Durcb seine Mehrwerttheorie bat Marx versucbt, eine tbeoretiscbe Erklarung der Tatsacbe des arbeitslosen Einkommens zu geben. Der Versuch ist bauptsacblicb deshalb gescbeitert, weil die Problemstellung irrefubrend war. Marx bat sicb namentlich die Aufgabe gestellt, durcb eine bestimmte Werttheorie das arbeitslose Einkommen als auf der Ausbeutung der Arbeiterklasse beruhend nacb- zuweisen. Nun ist der Wertbegriff nicbt geeignet, den sozialen Inhalt eines bestimmten Wirtsobaftssystems aufzu- decken. Das Cbarakteristiscbe des okonomischen Wert- begrififs bestebt eben darin, dafs darin alle sozialen Momente