PROF. DR. IUR. ALOIS RIKLIN
HOLZSTRASSE 31
9010 ST.GALLEN
Herrn
Prof.Dr.Dr. Kurt W. Rothschild
Döblinger Hauptstrasse 77a
A-1190 Wien
14. März 2001
Lieber Herr Rothschild,
endlich komme ich dazu, Ihren wertvollen Festschriftbeitrag genau zu lesen. Sie tun mir
zu viel der Ehre an. Mit Ihren wenigen kritischen Bemerkungen bin ich durchwegs
einverstanden. Vor allem sehe ich ein, dass ich den kritischen Rationalismus leichtfertig
von den Tatsachen zu den Werten umdeutete.
Dankbar bin ich vor allem für die Darlegung der Werturteilsproblematik in den
Wirtschaftswissenschaften. Die Stellungnahmen von Sidgwick, Keynes und Lionel
Robbins waren mir nicht bekannt. Vielleicht kann man in der Ökonomie eine
unterschiedliche Rezeption der Wirtschaftsethik in Betriebswirtschaft und
Volkswirtschaft feststellen. Jedenfalls in den USA scheint die Volkswirtschaftslehre
mehr Mühe zu haben mit der Wirtschaftsethik als die Betriebswirtschaftslehre, vom
indischen Nobelpreisträger Sen abgesehen.
Wohltuend finde ich Ihre Kritik an den in der Ökonomie selten hinterfragten Wert
vorstellungen der Effizienz und des "heiligen" Marktes. Binswanger betitelte sein
jüngstes Buch treffend mit "Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen". Auch die
Globalisierung wird neuerdings von den sogenanntenNeoliberalen wie eine
unausweichliche Tatsache gehandelt. Dabei scheint mir offensichtlich zu sein, dass die
Globalisierung die starken stärkt und die Schwachen schwächt.
Die Grenziehung zwischen politischer und wirtschaftlicher Ethik scheint mir
willkürlich. Es gibt keine "politique pure". Die Verteilungsproblematik gehört ebenfalls
zur Politik und zur Politikwissenschaft, obwohl sich die etablierte Politikwissenschaft
weniger damit befasst hat als die Wirtschaftswissenschaft. John Rawls zweiter
Gerechtigkeitsgrundsatz ist für die Politikwissenschaft ebenso relevant wie für die
Volkswirtschaft. Aber ich bin einverstanden, dass die Umsetzung der Theorie in die
Praxis grosse Mühe bereitet.