Lieber Herr Riklin,
Besten Dank für Ihr Schreiben und Ihre Gratulation. Das beiliegende Inhalts
verzeichnis hat mich enorm beeindruckt. Jetzt liegt Ihr magnum Opus vor?!
Jetzt möchte ich kurz auf Ihren Wunsch eingehen, mehr über Folgen von Lohn
kürzung und/oder Arbeitszeitverlängerung zu hören. Eine generelle ausführ-
liche Behandlung ist nicht möglich, da die Folgen je nach Situation sehr
verschieden sein können. Ich beschränke mich daher auf die gegenwärtige
europäische Situation. Die bestehnden Absatzschwierigkeiten in vielen
Industrien und die allgemekne Arbeitslosigkeit sind derzeit in den meisten
Ländern nicht so sehr durch zu hohe Arbeitskosten (die in manchen Bereichen
sowieso nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtkosten ausmachen)bedingt,
sondern vor allem durch eine schwache Nachfrage bei vorhandenen ungenützten
Kapazitäten und scharfem Wettbewerb. Die Nachfrageschwäche hat mehrere
Ursachen: Öffentliches Sparen, Konsumzurückhaltung wegen Ängsten vor
Arbeitslosigkeit und Altersarmut, Investitionsschwäche wegen unsicherer
Nachfrage.
In dieser Situation ist es für jede einzelne Firma und jeden einzelnen
Staat sicher von Vorteil, wenn Löhne gesenkt oder Arbeitszeiten (bei gleich
bleibendem Lohn) erhöht werden. Man gewinnt einen Wettbewerbsvorteil und
kann mehr absetzen. Da ber die Nachfrage witerhin schwach ist, geht das
witgehend auf Kosten anderer Firmen oder Länder. Es ist der Beginn einer
" beggar-my-neighbour " -Politik, wie sie in den 1930-erJahren üblich war
(als Brüning durch Verordnung Löhne und Preise um 5% senkte). Kommt es
aber - was nicht unwahrscheinlich oder sogar beabsichtigt ist - zu einer
Anwendung der Lohnsenkungs- und Arbeitszeitstrategie auf breiter (natio-
naler) Grundlage, dann fällt der Wettbewerbsvorteil weg. Priese uund Ein-
kommen gehen zurück und real ändert sich wenig an der Nachfragesituation,
die Ursache der Absatzschwäche ist. Steigt die Nachfrage überhaupt nicht,
dann bedeutet höhere Arbeitszeit der Beschäftigten auch ein Verschärfung
der Arbeitslosigkeit. Die ständige Verringerung der Arbeitszeit in den
letzten zwihundertjahren war ja nichts anderes als eine Antwort auf die
steigende Arbeitsproduktivität und die ist natürlich weiter im Steigen
begriffen. Globale Arbeitzeitverlängerung ist daher anachronistisch.
All das bedeutet natürlich nicht, dass nicht einzelne Firmen oder ganze
Länder durch zu hohe Löhne wettbewerbsunfähig geworden sind und daher Maß-
nahmen treffen müssen (Lohnsenkungen oder Abwertungen). Aber das kann z.B.
nicht das Problem Deutschlands mit seinem ständigen Exportüberschuss sein.
Herzliche Grüsse