''Die Weltwoche", Zurich, vom 2.12.66
Michael Kalecki: Theorie der wirtschaft-
lichen Dynamik. Eine Untersuchung der
zyklischen Schwankungen und der langfri-
stigen Entwicklung der kapitalistischen
Wirtschaft. Europa-Verlag, Wien, Frank
furt, Zurich, 1966.
Der Europa-Verlag legt in seiner Reihe
«Europaische Perspektiven» die von Egon
Matzner besorgte, nicht in alien Teilen ge-
gliickte deutsche Ueborsetzung von Michael
Kaleckis «Theory of Economic Dynamics»
vor, ein Band, der bereits vor zwolf Jahren
im Londoner Verlagshaus Allen & Unwin
erschienen war. Wie der Autor im Vorwort
schreibt, dachte er sich das Werk als ge-
meinsame zweite Auflage seiner 1939 und
1943 erschienenen Studien « Essays in the
Theory of Economic Fluctuations» und
«Studies in Economic Dynamics». In der
Tat sind auch die Hauptgedanken diesel-
ben geblieben; geandert hat an einigen
Stellen etwas die Argumentation und auch
die Presentation, wohl im Bestreben, der
von vielen Sedten vorgetragenen Kritik V
Rechnung zu tragen. Allerdings haben auch (
einige neue Problemkreise Eingang in die j
Darstellung gefunden; am meisten in die J
Augen springt dem Leser jedooh die stark
ausgebaute und soweit wie moglich a jour
gebrachte statistische Illustration der theo-
retischen Untersuchung.
Was den Verlag bewogen hat, diese «Un-
tersuchung der zyklischen Schwankungen
und der langfristigen Entwicklung der ka
pitalistischen Wirtschaft» zum jetzigen Zeit-
punkt noch herauszubringen, bleibt durch-
auis unklar. Vielleicht gab die Tatsache,
dass Kalecki heute in Polen lehrt und dem
kapitalistischen Wirtschaftssystem eher kri-
tisch gegenubersteht, den Ausschlag. Mit
der Veroffentlichung dieser teilweise langst
widerlegten oder als Tautologie entlarvten
Theorien, die ausigerechnet jenes Gebiet
der Wirtschaftswissenschaft betreffen, das
zu den jiingsten Forschungsdisziplinen
zahlt und in dem die Fortschritte in den
letzten beiden Jahrzehnten denn auch am
starksten waren, hat sich der Verlag jeden-
falls weder um die Popularisierung wesent-
licher okonomischer Erkenntnisse verdient
gemacht, noch hat er dem westlichen Le
ser ein fiir die Denkweise der sozialistisch-
planwirtschaftlich orientierten Fachvertre-
ter typisches Forschungsbeispiel nahege-
bracht, stammen die Kemstiicke des Bu-
che s do ch a us der Zeit, d a Kalecki an der
Oxford University wirkte. Jene Jahre un-
mittelbar vor und wahrend des Zweiten
Weltkrieges, als die Wissenschaft ganz im
Banne der bahnbreehenden Lehren des
grossen John Maynard Keynes stand, muss-
ten wohl etwas anderes entstehen lassen,
als in der heutigen wissenschaftlichen Um-
gebung der Warschauer Schule fur Planung
und Statistik gediehe.
Das vorliegende Werk beginnt mit der Ent
wicklung einer Messziffer fiir den sogenann-
ten Monopolisierungsgrad, die Kalecki dar-
auf zur Bestimmung derEinkommensvertei-
lung herbeizieht. Dabei fallt er allerdings
einem Zirkelschluss zum Opfer, wie schon
verschiedene seiner Kritiker nachgewiesen
haben. An dieser Tatsache vermag auch
die Bemiihung statistischer Beweisbeispiele
nichts zu andern, denn wissenschaftlich ist
der ganze Ansatz unergiebig, ganz abge-
sehen da von, dass die okonomische Bedeu-
tung der Bestimmungsfaktoren («zwei po
sitive Koeffizienten»!) seines Monopol-
index nicht zu entratseln ist. Es folgen dann
weiter Theorien der Profite, des Zinses
1 (wobei die erstaunliche These aufgestellt
wird, dass «der Zinssatz des Kapitals nicht
durch Angebot und Nachfrage bestimmt
werden kann, weal die Investitionen auto-
matisch eine gleich hohe Summe von Er-
spamissen erzeugen»!) und der Investitio
nen. Ueber die Schilderung des Mechanis-
mus des Konjunkturzyklus gelangt der
. Autor schliesslich zu seiner Darstellung
des Prozesses der langfristigen wirtschaft-
lichen Entwicklung. Nach Kalecki ist das
kapitalistische System an sich unfahig, aus
sich selbst heraus die Kraft fiir eine lang-
fristige Aufwartsbewegung aufzubringen. Es
bedarf dazu vielmehr spezieller Entwick-
lungsfaktoren, unter denen der technische
Fortschritt von grosster Wichtigkeit ist.
Weil die Intensitat der technischen Neue-
rungen in der spateren Phase der kapita
listischen Entwicklung abnehrpen werde,
prophezeit Kalecki eine eher diistere Zu-
kunft mit Arbeitslosigkeit usw. Deutlich
merkt man noch den «Krisenschreck» jener
Zeit in dieser Prognose, die inzwischen
allerdings langst optimistischeren Ansichten
Platz machen musste. Kaleckis Werk, so
wichtig es seinerzeit vor allem fiir die Ent
wicklung der okonometrischen Konjunk-
turforschung war, ist heute doch deutlich
vom wissenschaftlichen Fortschritt iiberholt
worden. So bleibt nur noch festzustellen,
dass die Miihe, die der Verlag aufgewendet
hat, einer aktuelleren Sache wurdig gewe-
sen ware. Heinz E. Keller