Full text: Theoretische Grundlagen des Marxismus

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mehr Arbeit zu liefern, als sie deren von ihnen in der 
Form des Arbeitslohns zuriickempfangen. 
Diese Tatsacbe ist zn offenkundig, nm eines Beweises 
zu bediirfen. Aber ibre Geltung fur das Yerstandnis der 
sozialen Yerhaltnisse des berrschenden 'Wirtschaftssystems 
ist nicbt so von vomberein klar. So ist z. B. Bohm-Bawerk 
durcb den Bemsteinscben Hinweis auf die Tatsacbe der 
Mehrarbeit durcbaus nicbt befriedigt. „ Offenbar konnte 
man“ — sagt er — „mit genau derselben Scblufsweise, die 
Pbysiokraten nocb iiberbietend, aucb beweisen, dafs die 
ganze iibrige Menscbbeit von einer Ausbeutung der land- 
wirtscbaftlicben Klassen lebt; denn scbliefslicb ist es Tat 
sacbe, dafs von den Bodenprodukten, welche die landwirt- 
scbaftlicben Arbeiter bervorbringen, aucb eine Menge anderer 
Leute mit erbalten wird 1 . 11 Ein russiscber Nationalokonom 
Frank bemerkt mit scbeinbarem Recht, dafs „wenn der eine 
Teil der Gesellscbaft dem anderen mebr Arbeit gibt, als 
er zuriickempfangt, so gibt der andere Teil dem ersten 
mebr Kapital und mebr Boden, und wir konnen mit dem- 
selben Recbte bebaupten, dafs die Arbeiter das Mebrkapital 
oder den Mebrboden derjenigen gesellscbaftlicben Kbassen 
aneignen, durcb welche ibre Mehrarbeit angeeignet wird “ 2 . 
Zur Produktion sind sacblicbe Produktionsfaktoren 
— Boden und Kapital — ebenso unentbehrlich wie Arbeit. 
Jeder von diesen Produktionsfaktoren gehort einer be- 
sonderen Gesellscbaftsklasse an. Es scheint also ganz 
natiirlich, dafs jede Klasse einen Anted am gesellscbaft 
licben Produkte erbalt und der Begriff der Mehrarbeit, 
obscbon formed richtig, scheint ebenso nutzlos und inbalts- 
leer zu sein, wie etwa die Begriffe des Mehrkapitals und 
Mebrbodens. 
Nun berubt, meines Eracbtens, diese ganze Betracbtungs- 
weise auf volliger Yerkennung des Kerns der Sacbe. Boden 
1 Bohm-Bawerk, Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien, 
1900. Zweite Auflage. S. 550. 
2 Frank, Marxsche Werttheorie. Russisch, 1900, S. 151. 
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und Kapital sind freilich ebenso unentbebrlich fur die Pro 
duktion wie Arbeit. Das gilt aber nicbt vom Grundeigen- 
tumer und Kapitalisten: aucb in den Handen des Arbeiters 
wiirden Boden und Kapital ibre produktiven Eigenscbaften 
bewabren. Der Kapitalist gibt dem Arbeiter sein Kapital 
— ein aufseres Ding, welcbes keinen Teil seiner eigenen 
Person ausmacbt, wabrend der Arbeiter dem Kapitalisten 
seine Arbeit gibt, also sicb selbst, seine eigene Person. 
Arbeit und Kapital oder Boden sind inkommensurabel, 
weil der Arbeiter ein Recbtssubjekt ist, menscblicbe Per- 
sonlicbkeit, also Zweck fur sicb, wabrend Kapital und Boden 
blofse Objekte, wirtscbaftlicbe Mittel bilden. Die Tatsacbe 
der Aneignung der Mehrarbeit weist also auf den sozialen 
Zwang bin, auf die Unterjocliung einiger Gesellscbaftsklassen 
durcb die anderen, denn nur gezwungen kann der Mensch 
seine Lebenskrafte fur die Hebung des wirtscbaftlicben 
Woblstandes der Personen anderer sozialer Klassen auf- 
wenden. Die Aneignung der Mehrarbeit beweist also, dafs 
die durcb modeme Kechtsanschauung anerkannte Gleich- 
berechtigung aller Staatsangehorigen durcb das herrscbende 
"Wirtscbaftssystem vereitelt wird. 
n. 
Das arbeitslose Enikommen und die Aneignung der 
Mehrarbeit durcb die Nicbtarbeitenden sind dieselbe soziale 
Erscheinung von verscbiedenen Seiten aus betracbtet. Durcb 
seine Mehrwerttheorie bat Marx versucbt, eine tbeoretiscbe 
Erklarung der Tatsacbe des arbeitslosen Einkommens zu 
geben. Der Versuch ist bauptsacblicb deshalb gescbeitert, 
weil die Problemstellung irrefubrend war. 
Marx bat sicb namentlich die Aufgabe gestellt, durcb 
eine bestimmte Werttheorie das arbeitslose Einkommen als 
auf der Ausbeutung der Arbeiterklasse beruhend nacb- 
zuweisen. Nun ist der Wertbegriff nicbt geeignet, den 
sozialen Inhalt eines bestimmten Wirtsobaftssystems aufzu- 
decken. Das Cbarakteristiscbe des okonomischen Wert- 
begrififs bestebt eben darin, dafs darin alle sozialen Momente
	        
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