Full text: Jahrbuch der Export-Akademie des K. K. Österreichischen Handels-Museums (2)

Wörter unterdrückt, so fällt dem Leser des Stenogramms die Aufgabe 
zu, alle die fehlenden Formen beim Lesen sinngemäß zu ergänzen 1 ). 
Was vollends die durch die Satzkürzung stark reducierten Schrift 
bilder anbelangt, so stellt ihre Entzifferung an die Intelligenz des 
Übertragenden noch höhere Anforderungen. 
Vielleicht stieße er schon auf einige Schwierigkeiten, wenn er 
einen gewissen Satz, den er aus der englischen Stenographie in die 
englische Sprache übertragen soll, in gleichem Ausmaße gekürzt in 
deutscher Stenographie vor sich hätte. Diese Schwierigkeit verdoppelt 
sich nun aber dadurch, dass er sich obendrein einer fremden Sprache 
gegenübersieht. 
Da mag sich denn beim Lesen fremdsprachlicher Stenogramme 
mancher psychologisch interessante Process abspielen. Der Übertragende 
fragt sich etwa, wie wohl dieses oder jenes ihm Schwierigkeiten 
bietende englische oder französische Wort in deutscher Übersetzung 
heißen würde — indem er dies aus dem Zusammenhänge zu erschließen 
trachtet — und sucht dann in seinem Wortschätze den adäquaten 
fremdsprachlichen Ausdruck; oder aber er kommt auf anderem, nicht 
minder instructivem Wege ans Ziel. Die Wörter aber, mit denen er 
sich auf diese Weise bekannt gemacht hat, werden als unveräußerliches 
Gut seinem englischen oder französischen Wortvorrathe einverleibt sein. 
Da endlich die Übertragung eines größeren Satzgefüges auch 
ein richtiges Erfassen des syntaktischen Aufbaues nöthig macht, so 
festigt und vertieft der Lernende seine Kenntnisse noch in einem 
weiteren wichtigen Theile der Grammatik, in der Satzlehre. 
Alles in allem: es gibt kaum eine sinnigere, anregendere Art, 
sich in einer fremden Sprache grammatisch und stilistisch zu schulen 
und zu vervollkommnen, als das Lesen gut gekürzter Stenogramme, 
und kaum eine eclatantere Bescheinigung unseres Einblickes in den 
Genius einer Sprache, als die Fähigkeit, im Fluge der Rede zu ent 
scheiden, was von einem Worte unbedingt im Stenogramm vorhanden 
sein muss, und was nach den Gesetzen der Grammatik und den Regeln 
des guten Stiles, nach dem allgemeinen Sprachgebrauch und der 
ganzen Structur einer Sprache sich von selbst versteht und somit nicht 
fixiert zu werden braucht. 
Es kann als Axiom gelten: ein Stenograph wird umso tüchtiger 
sein, je mehr er die Sprache, in der er stenographiert, in seiner Ge 
walt hat; und wiederum: sein Einblick in den Bau einer Sprache, 
seine Beherrschung derselben nimmt in dem Maße zu, in dem er sich 
stenographisch in ihr bethätigt. 
Bei der mannigfaltigen Anregung, die, wie wir gesehen haben, 
das Erlernen einer fremdsprachlichen Stenographie bietet, konnte es 
nicht fehlen, dass den Vorträgen sowohl von den Hörern der Export- 
b So z. B. in der englischen Stenographie das s des Plurals der Haupt 
wörter und das s der 3. Pers. Einz. Gegenw.; die Endung ed des Mittelwortes 
der Vergangenheit der schwachen Zeitwörter und die Endungen er und est der 
zweiten und dritten Steigerungsstufe.
	        
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