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»Fast jedes Wort, welches ich vor genau einem Jahre zur
Charakterisierung des Budgets für 1902 vor dem Hause vorzubringen
in der Lage war, kann ich heuer zur treffenden Charakterisierung des
nächstjährigen Budgets wiederholen. Ich sprach damals von einer
empfindlichen budgetären Knappheit und Enge, welche aus
dem gleichzeitigen Zusammentreffen exzeptioneller Umstände auf beiden
Seiten der wirtschaftlichen Bilanz, auf der Einnahmen- und Ausgaben
seite hervorgegangen sei; auf der Einnahmenseite durch eine gewisse
Stockung in der natürlichen Entwicklung der regulären
Einnahmen infolge der wirtschaftlichen Depression, die sich
ja damals schon empfindlich fühlbar zu machen begann; auf der
Ausgabenseite hauptsächlich infolge eines Anschwellens von Mehr
bedürfnissen, infolge einer gesteigerten Tätigkeit des Staates auf
dem Gebiete der volkswirtschaftlichen Politik, insbesondere auf
dem Gebiete der Investitionspolitik. Dieses Charakteristikon
läßt sich nun Wort für Wort auch heuer für den Staatsvoranschlag für
das Jahr 1903 wiederholen.« In der Tat stellt eine moderne Krisis den
Staat vor die schwierige Aufgabe, bei sinkenden Einnahmen durch eine
Investitionspolitik großen Stils dem geschäftlichen Stillstand entgegen
zuarbeiten. Jeder objektive Beobachter muß zugeben, daß diese Aufgabe
in unserem Staate in geradezu imposanter Weise gelöst worden ist. 1 )
Kein Wunder also, daß trotz Ausnützung so außerordentlicher
Hilfsquellen, wie des Münzgewinnes, der Gebarungsüberschüsse aus
früheren Jahren und sogar des Versorgungsfonds der Landpost
bediensteten, der Überschuß der faktischen Einnahmen über die Aus
gaben nach den Zentralgebarungsausweisen von den 49 Millionen
Kronen des Jahres 1900 in den nächsten Jahren unaufhaltsam auf 21,
12 und L2 Millionen herabgesunken ist und für 1903 geradezu in
ein Defizit Umschlagen dürfte. 2 )
Selbstredend mußte in allen Zweigen der Staatsverwaltung jede
irgendwie aufschiebbare Ausgabe während dieser kritischen Zeit zurück
gestellt werden. Ist dies nun eine für einen großen Staat wünschens
werte Situation? Darf das Budget eines Kulturstaates so unelastisch
*) Vgl. Lopuszanski »Die Volkswirtschaft Österreichs in den Jahren
1900—1904«, Wien 1904, S. 74 ff.
2 ) Seit Niederschrift des Obigen wurde das Defizit bereits im Betrage von
fast zwei Millionen Kronen im Expose des Finanzministers vom 17. November 1904
ausgewiesen. Auch hat sich ein Fachmann von der Bedeutung Dr. Bärnreithers in
der Sitzung des Reichsrates vom 7. Dezember 1904 in folgender Weise geäußert:
». . . es kommt nicht auf das ziffermäßige Resultat eines Jahres an, sondern
auf die Lebenskraft des Staatshaushaltes, d. h. auf seine Hilfsquellen und die
Möglichkeit, sie zu erschließen. In dieser Hinsicht ist aber unsere Zukunft eine
sehr ungewisse. Unser Budget ist anämisch, d. h., viele notwendige Kultur
aufgaben müssen zurückgestellt werden, auf Überschüsse können wir derzeit nicht
rechnen und die Kassabestände sind reduziert.« In derselben Rede wird der An
leihebedarf der »allernächsten Jahre« auf 553 Millionen Kronen und das daraus
entspringende Zinsenerfordernis auf 23 Millionen Kronen geschätzt; demgemäß
stellt der Redner folgende Anfragen: »Ist der Herr Finanzminister geneigt, anzu-
erkeunen, daß unsere budgetäre Lage einen bestimmten Finanz plan fordert
und kann er einen solchen in Aussicht stellen?«