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Standpunkte aus, da es sich doch geradezu um Verminderung einer
Volksvergiftung handelt, als eine völlig unabweisliche Pflicht jedes
modernen Staates anzuerkennen. Allerdings ist es noch sehr fraglich,
ob man dabei auf die unbedingte Zustimmung der meisten erklärten
Antialkoholisten rechnen kann. Doch ist zu befürchten, daß der
intransigente Standpunkt vieler offizieller Vertreter des Antialkoholismus
ihre mit der größten Sympathie zu begrüßende Agitation verhindern
könnte, jemals die volle Ausdehnung anzunehmen, welche ihr im
Interesse der menschlichen Kultur zu wünschen wäre. Von dem Stand
punkte des intransigenten Abstinenten ist das Alkoholmonopol vielleicht
ebenso verwerflich wie jede andere Maßregel, abgesehen von der
völligen Verhinderung des Genusses von Spirituosen. Es wird dem
Antialkoholisten strengster Observanz als unsittliches Kompromiß er
scheinen, wenn der Staat das Branntweintrinken gewissermaßen als
staatliche Einrichtung anerkennt, indem er selbst den Ausschank über
nimmt. Allein die Ablehnung dieser Maßregel aus diesem Grunde wäre
doch nichts anderes als eine törichte Vogel-Strauß-Politik. Ob der
Staat die Tatsache der Trunksucht anerkennen will oder nicht, die
Tatsache bleibt ja doch bestehen. Fürst Bismarck konstatiert, daß in
seiner ländlichen Umgebung nur derjenige nicht täglich seinen Brannt
wein trinke, der das Geld nicht dazu habe. Wer auch nur eine Vor
stellung davon hat, wie schwer es einem Raucher wird, diese lieb
gewordene Gewohnheit abzulegen, und bedenkt, um wieviel tiefer der
Alkoholismus, einmal angewöhnt, durch die Zusammensetzung des Blutes
dem Willen des Trinkers gewissermaßen imprägniert ist, wird sich
doch nicht der Hoffnung hingeben, durch irgend welche Maßregel die
Gewohnheit des Trinkens ganz und gar beseitigen oder von einem
Jahre zum nächsten auch nur stark reduzieren zu können. Ist sie aber
kaum in Generationen ausrottbar, so bleibt nichts anderes übrig als
das von den radikalen Abstinenten so gern verhöhnte Streben nach
Mäßigkeit. Gewiß liegt das Argument nahe, daß die Mäßigkeit ein
unbestimmter Begriff sei und von jedem Individuum anders gedeutet
werden könne. Allein mit dieser seichten Einwendung könnte man
über das ganze herrliche altgriechische Prinzip des weisen Maßes in
allen Dingen, wie es in dem Aristotelischen Grundsätze von der
richtigen Mitte im Plandeln gipfelt, ein für allemal zur lagesodnung
übergehen, während doch dieser Grundsatz jeden lag von jedem ge
scheiten Menschen in seiner ganzen Lebensführung verwirklicht werden
muß. Gewiß, es gibt im Alkoholismus Grenzen des Maßes, welche für
jedes Individuum verschieden sind. Pis gibt aber auch eine Normal
grenze für normale Menschen. Indem uns die leidenschaftlichen Vor
kämpfer des Antialkoholismus auch denjenigen Genuß entziehen möchten,
welcher noch weit hinter dieser Normalgrenze zurückbleibt, verfallen
sie in den Fehler, selbst das Prinzip des weisen Maßes zu verletzen
und dadurch die größte Zahl ihrer latenten Bundesgenossen von der
Teilnahme an dieser Kulturbewegung abzuschrecken. Indem sie
die Verpflichtung zu völliger Abstinenz fordern und aus jedem Schluck