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Bier oder Wein ein Verbrechen machen wollen, setzen sie sich mit
den Erfahrungen und Bedürfnissen der ungeheuren Mehrzahl in Wider
spruch. Verlassen wir aber den utopischen Standpunkt der allgemeinen
und unbedingten Abstinenz, beschränken wir uns in der Alkoholfrage
wie in jeder anderen auf das Erreichbare, nämlich die noch immer
hinlänglich schwierige Bekämpfung der allerärgsten Übelstände durch
Begünstigung der Temperanz, so hoffe ich zu zeigen, daß es einen
mächtigeren Motor der Temperanzbewegung als den mit dem Alkohol
monopol ausgerüsteten Staat weder gibt noch geben kann. Beim besten
Willen wird auch der Staat nur langsam die Trinksucht einschränken
können, wenn er nicht durch allzu strenge Maßregeln selbst das Volk
dazu zwingen will, die Gesetze zu umgehen. Daher ist auch bei zweck
mäßiger antialkoholischer Handhabung des Monopols kein so großer
Rückgang der Einnahmen zu erwarten, daß er nicht durch allmähliches
Anziehen des Preises, vielleicht die wirksamste antialkoholische Maß
regel, wettgemacht werden könnte.
Jedenfalls kann der Staat in seinen Maßnahmen zur Abwehr der
Trunksucht sich nicht auf das beschränken, was den Heißspornen des
Antialkoholismus als wünschenswert, jedem anderen als undurchführbar
erscheint. Die Gefahren, welche die Trunksucht mit sich bringt, sind
sattsam bekannt und die Bekämpfung der Branntweinseuche ist
mindestens ebensosehr ein Erfordernis der öffentlichen Sicherheit, wie
eine Aufgabe der Hygiene. So hat Professor Löffler (Wien) 1 ) nach
gewiesen, daß unter den 17 verurteilten Mördern der Jahre 1896 und
.1897 zwei betrunken und sieben Trinker waren, deren Verbrechen
in nachweisbarem Zusammenhänge mit ihrer Trunksucht standen.
60 Prozent der Verbrechen Erwachsener wurden im Gerichtssprengel
desselben Autors in betrunkenem Zustande verübt. Von Dienstag bis
Sonnabend werden in Wien nicht so viele schwere Körperverletzungen
begangen wie am Sonntag, von diesen drei Viertel in betrunkenem Zu
stande des Täters. Selbst militärisch dürfte die relative Nüchternheit
der Japaner ein Element ihrer Überlegenheit sein. Unter solchen Um
ständen muß der Staat die Abwehr der Trunksucht als eine seiner
wichtigsten sozialpolitischen Aufgaben betrachten.
Die Maßregeln zur Abwehr der Trunksucht sind am besten von
dem verdienstvollen Berliner Bezirks- und Gefängnisarzt Dr. A. Baer 2 )
in ein annähernd vollständiges Programm gebracht worden. Baer fordert:
aj Maßnahmen der Gesellschaft:
1. Schutz der Kinder gegen Verwahrlosung;
2. Gesunde Wohnungen;
3. Bessere Nahrung;
4. Volkscafös und Unterhaltungen;
5. Mäßigkeitsvereine;
6. Trinkerasyle.
b »Alkohol und Verbrechend, Liszts Zeitschrift f. Strafrechtswissen
schaft, 1901.
2 ) A. Baer, »Die Trunksucht und ihre Abwehr«, Berlin 1890.