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Es ist keineswegs ein allgemeiner oder auch nur vorherrschender
Gebrauch, in den Kaufsverträgen für den Fall eines Streites die Kom
petenz der ordentlichen Gerichte bei gleichzeitiger Bestimmung eines
Schiedsgerichtes auszuschließcn. 1 ) Man legt überhaupt dem kauf
männischen Schiedsgerichtswesen geringere Bedeutung bei als
an den großen nordwesteuropäischen Seehandelsplätzen. Demgemäß
ist es auch ein Ausnahmefall, daß für den Handel mit Getreide und
Müllereiprodukten eine ständige Organisation für Schiedsgerichte ge
schaffen worden ist (siehe Seite 54). ln vielen Lieferungs- (auch
Import-)Kontrakten sagt man über Streitfälle überhaupt nichts oder
bedingt nur eine Qualitätsexpertise (eventuell nur für den Fall von
Havarie) oder setzt nur allgemein fest, daß ein Prozeß in Marseille
geführt werden müsse. Wohl kommt es nicht selten vor, daß man nach
Entstehung eines Streitfalles, wenn die Kontrahenten zu keiner Eini
gung gelangen können, die Entscheidung durch Geschäftsfreunde anruft.
Aber auch in solchen Fällen bleibt das in Frankreich bestehende
Recht der Berufung gegen Schiedssprüche an den Appellgerichtshof
(für Marseille in Aix), das man durch Vertrag aufheben kann, sehr
häufig aufrecht. Charakteristischerweise hat übrigens die Schieds
gerichtsorganisation für den Getreidehandel auch eine Berufung an
eine zweite Schiedsgerichtsinstanz vorgesehen.
Von den nach der letzteren Organisation eingeführten Schieds
gerichten (die aus einer, drei oder fünf Personen bestehen) abgesehen,
pflegt man im Kompromißwege einen Schiedsrichter oder je einen
durch jeden der beiden Kontrahenten zu wählen. Können sich die nach
der letzten Art gewählten zwei Schiedsrichter nicht einigen, so wird
ihnen gewöhnlich das Recht gegeben, einen dritten zu nominieren,
dessen Urteil aber nicht wie das des englischen umpire für sich allein
entscheidend ist, sondern der sich — übrigens auch nach gesetzlicher
Bestimmung -— an einen der beiden Schiedssprüche anzuschließen
und auf diese Weise ein Mehrheitsurteil herbeizuführen hat.
Ohne Schiedsgerichtsvertrag ist für Streitigkeiten aus Handels
geschäften zwischen Kaufleuten in erster Instanz das Tribunal
de Commerce (Handelsgericht) kompetent, das durch die Art
seiner Zusammensetzung (Kaufleute gewählt durch Kaufleute) das
kaufmännische Schiedsgericht bis zu einem gewissen Grade zu ersetzen
geeignet ist. Zu großem Teil dürfte wohl hierin die Ursache der ge
ringeren Bedeutung, die das kaufmännische Schiedsgerichtswesen in
Marseille besitzt, zu suchen sein.
Im Seeversicherungsgeschäfte pflegt man in Marseille, die
folgenden Polizzen zu verwenden:
1. Zur Versicherung von Waren
a) die „Police d’Assurance Maritime vom 24. März 1866”,
die heute nur mehr in vereinzelten Fällen bei Segelschiff-Transporten
in Gebrauch genommen wird;
i) In Getreidekontrakten ist häufig die Klage bei einem Schiedsgerichte
oder beim Handelsgerichte zur Wahl gestellt.