Full text: 19. Jahrbuch der K. K. Exportakademie (19)

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Gewiß erzeugt die tiefstehende Negerhorde ihre armselige 
Sprache; aber sie erzeugt sie spontan und ihrem geistigen Niveau 
entsprechend. Nach jahrhundertelangen, nach jahrtausendelangen 
unkontrollierbaren Geburtswehen tritt dies Sprachgebilde zutage, 
und zwar nicht als etwas Starres, sondern als ein organischer 
der Weiterbildung fähiger Körper. 
Wir dürfen nicht übersehen, daß der Hauptcharakter einer jeden 
Sprache ihre Fortentwicklung, ihre stete Veränderlichkeit ist. 
Wenn wir annehmen, daß eine künstliche Spi’aehe den aus 
schließlichen Rang einer allgemeinen Verständigungssprache ein 
nimmt, wird es ihr möglich sein, das Privilegium zu besitzen, als 
einzige, unveränderlich fortzubestehen und auf dem ganzen Erd 
ball in allen Beziehungen, die bei einer Sprache zu erwägen sind 
(Aussprache, Formen, Gedankenausdruck etc.) identisch weiter 
zuleben? 
Wenn wir ein fest abgerundetes Sprachgebiet ins Auge fassen, 
können wir uns der Wahrnehmung kaum verschließen, daß eine 
jede Provinz, eine jede Stadt, jeder Weiler, jedes Gehöft, ja jedes 
Individuum seine Spracheigentümlichkeiten besitzt. 
Man denke nur an die historisch berühmten Mißverständ 
nisse, die durch falsche Aussprache oder falsche Auffassung her 
beigeführt worden sind. So wird in den Richtern XII 5, 6 erzählt, 
daß Jephtha an der falschen Aussprache des Wortes Sehibboleth 
die Ephraimiter erkannte und ihrem unseligen Schicksal zuführte. 
Livius XXII, 13 berichtet, daß Hannibals Wegweiser Casilinum 
für Casinum verstanden hatte. Er wurde ans Kreuz geschlagen, 
da eine derartige Verwechslung von Örtlichkeiten den Puniern 
verhängnisvoll hätte werden können. 
Bekannt ist auch das während der sizilianischen Vesper ge 
brauchte Erkennungswort „Ciceri”, dessen schlechte Aussprache 
vielen tausend Franzosen das Leben kostete. 
Auch in der zweiten Sure des Koran finden sich derartige 
Mißverständnisse. 
Selbst das bekannte, allerdings wenig naiv homerische Wort 
spiel, mit dem Namen des Odysseus (’Odvaöevg — Oöug), kann 
hier erwähnt werden. (Od. IX, 366.) Es ist überflüssig noch weitere 
Beispiele hier anzuführen, da derartige Mißverständnisse, die die 
Wandelbarkeit, Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit einer Sprache 
hervorrufen, schon aus dem gewöhnlichen Alltagsleben einem 
jeden zur Genüge bekannt sind. —- Wie viele Quiproquos ergeben 
sieh beim Gebrauch einer fremden Spiache! 
Wie viele ungeahnte Irrtümer und Unklarheiten müßten 
notgedrungen bei Anwendung einer künstlichen, wortarmen Sprache 
zutage treten! 
Man hätte vermuten können, daß Brugmann und Leskien 
in ihrer vortrefflichen Studie „Zur Kritik der künstlichen Welt 
sprache” bereits das letzte Wort in dieser Angelegenheit gesprochen 
haben. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Es erheben sich stets 
neue Apostel, die ihrer Idee zum Siege verhelfen wollen.
	        
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