Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

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Das Altertum kannte die Repräsentativverfassung so gut wie 
gar nicht. Jeder Vollbürger übte seine Anteilnahme an den Staats 
geschäften in den Bürgerversammlungen unmittelbar aus; er ver 
trat dabei freilich auch alle Nichtvollbürger, also Frauen, Halb- 
fieie, Sklaven; aber das erschien dem Altertume keineswegs als 
eine Vertretung im späteren Sinne, da ihm Frauen, Halbfreie, 
Sklaven in Staatsgeschäften vernachlässigbare Größen waren. Der 
jetzige Gedanke des Repräsentativsystems entstammt erst dem 
mittelalterlichen England und ist dann verhältnismäßig spät auf den 
europäischen Kontinent übergesprungen. Noch im 18. Jahrhundert 
stritten Montesquieu und Rousseau darüber, welches System 
das richtige sei: jenes der unmittelbaren Ausübung der Staats 
funktionen durch die Volksgenossen, oder das einer solchen Aus 
übung durch die Volksvertreter, Abgeordneten. In dieser Dispu 
tation siegte wenigstens bis jetzt Montesquieu. Zwar haben ein 
zelne kleine Schweizer Kantone die Rousseausche Lehre ver 
wirklicht und es stellen Plebiszit und Referendum Abstimmungen 
der Bürgerschaft über Staatsfragen dar, demnach Anwendungs 
fälle des Rousseauschen Prinzipes von der unmittelbaren Aus 
übung der Volkssouveränität durch die Bürger. Aber außerhalb 
der gutgeschulten Schweiz und der Vereinigten Staaten von 
Nordamerika haben diese Einrichtungen bisher keine Bedeutung 
erlangt. So herrscht fast ausschließlich das Repräsentativsystem. 
Die geltende Verfassung Deutschösterreichs formuliert es 
folgendermaßen: Alle Gewalt ruht im Volke. Es gibt keinen Herr 
scher (Republik ohne einen Präsidenten), es besteht das Ein 
kammersystem (kein Herren- oder Ständehaus) und die Kammer, 
Nationalversammlung, besteht ausschließlich aus gewählten Abge 
ordneten (keine Ernennung, keine Erblichkeit, keine Virilstimme). 
Die Wahlen geschehen auf Grund des allgemeinen, gleichen, 
direkten und geheimen Wahlrechtes, ohne einen Unterschied des 
Geschlechtes, jedoch mit Beschränkung auf die Staatsbürger. Das 
Wahlsystem beruht auf dem Grundsätze der gebundenen Liste 
und dem Mehrheitsprinzipe, gemildert durch das zugunsten der 
Minderheiten eingeführte System der Proportionswahlen. Eine 
Wahlpflicht besteht nicht. Die Nationalversammlung faßt ihre Be 
schlüsse (der Regel nach) mit der absoluten Mehrheit der an 
wesenden Stimmberechtigten, wenn nur die zur Beschlußfassung er 
forderliche Zahl von Abgeordneten bei der Abstimmung anwesend 
ist. Die Versammlung wählt auf diese Art die Regierung und alle
	        
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