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Das Altertum kannte die Repräsentativverfassung so gut wie
gar nicht. Jeder Vollbürger übte seine Anteilnahme an den Staats
geschäften in den Bürgerversammlungen unmittelbar aus; er ver
trat dabei freilich auch alle Nichtvollbürger, also Frauen, Halb-
fieie, Sklaven; aber das erschien dem Altertume keineswegs als
eine Vertretung im späteren Sinne, da ihm Frauen, Halbfreie,
Sklaven in Staatsgeschäften vernachlässigbare Größen waren. Der
jetzige Gedanke des Repräsentativsystems entstammt erst dem
mittelalterlichen England und ist dann verhältnismäßig spät auf den
europäischen Kontinent übergesprungen. Noch im 18. Jahrhundert
stritten Montesquieu und Rousseau darüber, welches System
das richtige sei: jenes der unmittelbaren Ausübung der Staats
funktionen durch die Volksgenossen, oder das einer solchen Aus
übung durch die Volksvertreter, Abgeordneten. In dieser Dispu
tation siegte wenigstens bis jetzt Montesquieu. Zwar haben ein
zelne kleine Schweizer Kantone die Rousseausche Lehre ver
wirklicht und es stellen Plebiszit und Referendum Abstimmungen
der Bürgerschaft über Staatsfragen dar, demnach Anwendungs
fälle des Rousseauschen Prinzipes von der unmittelbaren Aus
übung der Volkssouveränität durch die Bürger. Aber außerhalb
der gutgeschulten Schweiz und der Vereinigten Staaten von
Nordamerika haben diese Einrichtungen bisher keine Bedeutung
erlangt. So herrscht fast ausschließlich das Repräsentativsystem.
Die geltende Verfassung Deutschösterreichs formuliert es
folgendermaßen: Alle Gewalt ruht im Volke. Es gibt keinen Herr
scher (Republik ohne einen Präsidenten), es besteht das Ein
kammersystem (kein Herren- oder Ständehaus) und die Kammer,
Nationalversammlung, besteht ausschließlich aus gewählten Abge
ordneten (keine Ernennung, keine Erblichkeit, keine Virilstimme).
Die Wahlen geschehen auf Grund des allgemeinen, gleichen,
direkten und geheimen Wahlrechtes, ohne einen Unterschied des
Geschlechtes, jedoch mit Beschränkung auf die Staatsbürger. Das
Wahlsystem beruht auf dem Grundsätze der gebundenen Liste
und dem Mehrheitsprinzipe, gemildert durch das zugunsten der
Minderheiten eingeführte System der Proportionswahlen. Eine
Wahlpflicht besteht nicht. Die Nationalversammlung faßt ihre Be
schlüsse (der Regel nach) mit der absoluten Mehrheit der an
wesenden Stimmberechtigten, wenn nur die zur Beschlußfassung er
forderliche Zahl von Abgeordneten bei der Abstimmung anwesend
ist. Die Versammlung wählt auf diese Art die Regierung und alle