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ihre Beschlüsse binden, wenn gehörig kundgemacht, alle Staats-
einwohner.
Diese Verfassung ist der ausgeprägte Typus einer Volks
repräsentation durch die Volksvertretung; sie faßt zusammen, was
man seit Jahrzehnten für eine demokratische Verfassung forderte.
Das Verfassungsgesetz, daß alle Staatsgewalt vom Volk eingesetzt
werde, ist dahin ausgeführt: das Volk wählt seine Vertreter und
diese Vertreter sind es, die die Staatsgewalt ausüben. Sind nun
diese Vertreter, wie in Deutschösterreich, in einer Kammer, der
Nationalversammlung, vereinigt und ohne einen Staatspräsidenten,
so ist ihre Gewalt eine besonders große. Denn unter einem Zwei
kammersystem mit einem Vetorecht des Herrschers ist die Gewalt
einer der beiden Kammern begreiflicherweise eine viel geringere
als dort, wo der gültige Kammerbeschluß hemmungslos zum Ge
setze wird. Man kann darum sicherlich von der deutschester-
reichisehen Nationalversammlung sagen, was vom englischen Par
lamente behauptet wird: es vermöge rechtlich alles anzuordnen,
nur nicht die Umwandlung eines Mannes in eine Frau.
Verfassungen dieser Art nennt man demokratische, weil das
Volk sich in ihn selbst regiere. Sie sind es, von denen Plato schon
im 4. Jahrhundert v. Chr. vielleicht nicht gewünscht aber prophe
zeit hat: nur demokratische Verfassungen würden in den volk
reichen Staaten der Gegenwart haltbar sein. Seine Prophezeiung
scheint im reichen Maße zuzutreffen; denn an eine Teilnahme der
Frauen, Halbfreien und Sklaven an der Staatsverwaltung hat Plato
sicherlich nicht gedacht; jene der Halbfreien und Sklaven wäre
ihm absurd, jene der Frauen mutmaßlich lächerlich erschienen.
Ist aber die deutschöstei’reichische Verfassung wirklich eine
demokratische? Am ernsten Willen der Gesetzgeber, eine solche zu
schaffen, ist freilich kein Zweifel. Aber haben sie auch die rich
tigen Einrichtungen getroffen oder haben sie sich nicht etwa zu
sehr an überlieferte Lehrmeinungen und Einrichtungen gehalten?
Das ist die Schicksalsfrage für den Bestand der Verfassung, ja für
das ordnungsmäßige Funktionieren der Staatsgewalten. Denn daß die
staatlichen Funktionen sich nach den erlassenen Gesetzen vollziehen,
das reicht nicht aus. Zugegeben, daß die Abgeordnetengesetzmäßigge-
wähltsind, zugegeben, daß die Nationalversammlung ihre Beschlüsse
gesetzmäßig faßt und kundmacht — das besagt nicht mehr, als daß die
Staatsarbeiten formell richtig erledigt werden und daß der ein
zelne den Beschlüssen gehorchen muß. Aber ob diese National-