Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

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ihre Beschlüsse binden, wenn gehörig kundgemacht, alle Staats- 
einwohner. 
Diese Verfassung ist der ausgeprägte Typus einer Volks 
repräsentation durch die Volksvertretung; sie faßt zusammen, was 
man seit Jahrzehnten für eine demokratische Verfassung forderte. 
Das Verfassungsgesetz, daß alle Staatsgewalt vom Volk eingesetzt 
werde, ist dahin ausgeführt: das Volk wählt seine Vertreter und 
diese Vertreter sind es, die die Staatsgewalt ausüben. Sind nun 
diese Vertreter, wie in Deutschösterreich, in einer Kammer, der 
Nationalversammlung, vereinigt und ohne einen Staatspräsidenten, 
so ist ihre Gewalt eine besonders große. Denn unter einem Zwei 
kammersystem mit einem Vetorecht des Herrschers ist die Gewalt 
einer der beiden Kammern begreiflicherweise eine viel geringere 
als dort, wo der gültige Kammerbeschluß hemmungslos zum Ge 
setze wird. Man kann darum sicherlich von der deutschester- 
reichisehen Nationalversammlung sagen, was vom englischen Par 
lamente behauptet wird: es vermöge rechtlich alles anzuordnen, 
nur nicht die Umwandlung eines Mannes in eine Frau. 
Verfassungen dieser Art nennt man demokratische, weil das 
Volk sich in ihn selbst regiere. Sie sind es, von denen Plato schon 
im 4. Jahrhundert v. Chr. vielleicht nicht gewünscht aber prophe 
zeit hat: nur demokratische Verfassungen würden in den volk 
reichen Staaten der Gegenwart haltbar sein. Seine Prophezeiung 
scheint im reichen Maße zuzutreffen; denn an eine Teilnahme der 
Frauen, Halbfreien und Sklaven an der Staatsverwaltung hat Plato 
sicherlich nicht gedacht; jene der Halbfreien und Sklaven wäre 
ihm absurd, jene der Frauen mutmaßlich lächerlich erschienen. 
Ist aber die deutschöstei’reichische Verfassung wirklich eine 
demokratische? Am ernsten Willen der Gesetzgeber, eine solche zu 
schaffen, ist freilich kein Zweifel. Aber haben sie auch die rich 
tigen Einrichtungen getroffen oder haben sie sich nicht etwa zu 
sehr an überlieferte Lehrmeinungen und Einrichtungen gehalten? 
Das ist die Schicksalsfrage für den Bestand der Verfassung, ja für 
das ordnungsmäßige Funktionieren der Staatsgewalten. Denn daß die 
staatlichen Funktionen sich nach den erlassenen Gesetzen vollziehen, 
das reicht nicht aus. Zugegeben, daß die Abgeordnetengesetzmäßigge- 
wähltsind, zugegeben, daß die Nationalversammlung ihre Beschlüsse 
gesetzmäßig faßt und kundmacht — das besagt nicht mehr, als daß die 
Staatsarbeiten formell richtig erledigt werden und daß der ein 
zelne den Beschlüssen gehorchen muß. Aber ob diese National-
	        
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