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prinzip. Dieses Mehrheitsprinzip ist somit die Grundlage der Herr
schaft: Es herrschen verfassungsgemäß nicht alle Volksgenossen,
nicht einmal alle Wähler, sondern deren Mehrheit. Nun kann ja
keine Rede davon sein, daß jeder Volksgenosse seinen Willen bei
der Staatsverwaltung und Gesetzgebung durchsetze. Das wäre
Anarchie, nicht Regierung; es wäre kein geordnetes, sondern ein
ungeordnetes Nebeneinanderleben der Menschen. So muß sich
denn jeder Mensch um der Mitmenschen Willen Beschränkungen
gefallen lassen; niemand wird darum von einer, wenngleich demo
kratischen Verfassung fordern dürfen, daß sie jedem einzelnen
die Durchsetzung seines Willens hinsichtlich der Staatsgeschäfte
gewährleiste. Aber daraus folgt noch nicht, daß gerade das Mehr
heitsprinzip überhaupt oder in seiner deutschösterreichischen
Fassung der richtige Behelf einer Verfassung sei.
II.
Die Untersuchung gilt somit dem Mehrheitsprinzipe.
Das mag überflüssig erscheinen. Denn es ist ja ein an
scheinend selbstverständlich gewordener Satz, daß die Mehrheit
bestimmen dürfe, was die Minderheit zu befolgen habe; die Mehr
heit einer Volksvertretung sogar das, was die Rechtsunterworfenen
außerhalb der Versammlung zu befolgen haben. Der Vereins
beschluß bindet die Vereinsmitglieder, der Volksvertretungs
beschluß die Staatseinwohner.
Warum?
Da ist zunächst danach zu fragen, was man unter einem
Mehrheitsbeschlüsse zu verstehen habe? Denn hiebei unterläuft die
erste Ungenauigkeit des Denkens.
Unter einem Mehrheitsbeschluß pflegt man nun den Beschluß
einer absoluten Mehrheit der Stimmen zu begreifen und das
Mehrheitsprinzip entnimmt seine Kraft der Tatsache, daß die Mehr
heit sich auf eine bestimmte Meinung vereinigt habe. Aber wessen
Mehrheit? Der treibende Gedanke war wohl der: die Mehrheit
derjenigen, für die der Beschluß Geltung haben soll, also bei
einem Vereine die Mehrheit der Vereinsmitglieder, beim Staate die
Mehrheit der Staatsbewohner. Wir wollen eine solche Mehrheit
eine materielle nennen. Vielleicht unvermerkt, jedenfalls gründ
lich ist nun dieser Grundsatz der materiellen Mehrheitsbeschlüsse
vorlassen und durch jenen der formellen Mehrheitsbeschlüsse,
d. i. der Beschlüsse der Mehrheit der Abstimmenden, ersetzt