Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

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prinzip. Dieses Mehrheitsprinzip ist somit die Grundlage der Herr 
schaft: Es herrschen verfassungsgemäß nicht alle Volksgenossen, 
nicht einmal alle Wähler, sondern deren Mehrheit. Nun kann ja 
keine Rede davon sein, daß jeder Volksgenosse seinen Willen bei 
der Staatsverwaltung und Gesetzgebung durchsetze. Das wäre 
Anarchie, nicht Regierung; es wäre kein geordnetes, sondern ein 
ungeordnetes Nebeneinanderleben der Menschen. So muß sich 
denn jeder Mensch um der Mitmenschen Willen Beschränkungen 
gefallen lassen; niemand wird darum von einer, wenngleich demo 
kratischen Verfassung fordern dürfen, daß sie jedem einzelnen 
die Durchsetzung seines Willens hinsichtlich der Staatsgeschäfte 
gewährleiste. Aber daraus folgt noch nicht, daß gerade das Mehr 
heitsprinzip überhaupt oder in seiner deutschösterreichischen 
Fassung der richtige Behelf einer Verfassung sei. 
II. 
Die Untersuchung gilt somit dem Mehrheitsprinzipe. 
Das mag überflüssig erscheinen. Denn es ist ja ein an 
scheinend selbstverständlich gewordener Satz, daß die Mehrheit 
bestimmen dürfe, was die Minderheit zu befolgen habe; die Mehr 
heit einer Volksvertretung sogar das, was die Rechtsunterworfenen 
außerhalb der Versammlung zu befolgen haben. Der Vereins 
beschluß bindet die Vereinsmitglieder, der Volksvertretungs 
beschluß die Staatseinwohner. 
Warum? 
Da ist zunächst danach zu fragen, was man unter einem 
Mehrheitsbeschlüsse zu verstehen habe? Denn hiebei unterläuft die 
erste Ungenauigkeit des Denkens. 
Unter einem Mehrheitsbeschluß pflegt man nun den Beschluß 
einer absoluten Mehrheit der Stimmen zu begreifen und das 
Mehrheitsprinzip entnimmt seine Kraft der Tatsache, daß die Mehr 
heit sich auf eine bestimmte Meinung vereinigt habe. Aber wessen 
Mehrheit? Der treibende Gedanke war wohl der: die Mehrheit 
derjenigen, für die der Beschluß Geltung haben soll, also bei 
einem Vereine die Mehrheit der Vereinsmitglieder, beim Staate die 
Mehrheit der Staatsbewohner. Wir wollen eine solche Mehrheit 
eine materielle nennen. Vielleicht unvermerkt, jedenfalls gründ 
lich ist nun dieser Grundsatz der materiellen Mehrheitsbeschlüsse 
vorlassen und durch jenen der formellen Mehrheitsbeschlüsse, 
d. i. der Beschlüsse der Mehrheit der Abstimmenden, ersetzt
	        
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