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worden. Nicht die Mehrheit der Rechtsunterworfenen, nicht einmal
die Mehrheit der Stimmberechtigten, sondern die Mehrheit der
Abstimmenden entscheidet.
Nun ist bekanntlich unser ganzes Gesellschaftsrecht und fast
unser ganzes öffentliches Leben auf dem Grunde des Mehrheits-
prinzipes aufgebaut. Dieser Grund erweist sich jetzt als hohl. Es
ist eine Einbildung, eine Fiktion, daß er das Gebäude auf die
Dauer werde tragen können. Wer an den Mangel der Tragfähig
keit nicht glaubt, denke an Obstruktion und passive Resistenz.
Diese Reaktionen gegen die Gewalt der Mehrheitsbeschlüsse sind
bekanntlich immer häufiger und wirksamer geworden und haben
zeitweise das parlamentarische Leben völlig lahmgelegt.
Solche Proteste gegen die bindende Kraft bloß formeller Mehr
heitsbeschlüsse erscheinen mir wohl erklärlich. Sehen wir doch zu,
wie die Sache steht. Ein Verein hat z. B. 1000 Mitglieder, von denen
200 zur Hauptversammlung erscheinen; 101 Mitglieder können für
die 1000 bindende Beschlüsse fassen; ist das noch eine Mehrheit,
die als solche eine Bedeutung beanspruchen kann? In einer Ver
fassung war bestimmt, daß das Abgeordnetenhaus von rund
•'00 Mitgliedern bei Anwesenheit von 100 Abgeordneten beschluß
fähig sei; 61 Abgeordnete konnten danach 600 Abgeordnete und
(wenn auch mit Hemmnissen durch den Herrscher und die erste
Kammer) alle Staatsbewohner binden. Ist es bei einer solchen
Rechtsordnung nicht eine Selbsttäuschung, hier von Beschlüssen
zu reden, die ihre Wirkung dem Willen der Mehrheit entnehmen,
und ist eine scharfe Opposition gegen solche, nur formelle Mehr
heitsbeschlüsse darstellende Willensäußerungen etwas gar so
Merkwürdiges oder Unberechtigtes?
Es gibt freilich Mittel, diese Mängel zu verbessern: Ent
weder die Heraufsetzung der zur Beschlußfähigkeit erforderlichen
Zahl, oder drastischer, die Einführung einer Abstimmungspflicht
füt die Stimmführer. Bisher ist die Rechtsentwicklung keinen
dieser Wege gegangen, weder bei Vereinen noch bei Aktiengesell-
°chaften.noch bei Volksvertretungen, so nahe derWeg bei der jetzigen
Auffassung lag, daß die Ausübung dieses öffentlichen Amtes kein
ec ht, sondern eine Pflicht sei. Die Rechtsentwicklung geht viel-
uiehr den entgegengesetzten Weg, jenen auf die Herabdrückung_
ies Quorum, wenn möglich auf seine Ausschaltung; die Rechts-
®utwicklung formalisiert das Mehrheitsprinzip, je länger, desto
® e hr. So verschärft sie das Übel, statt es zu mindern.