Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

III. 
Die bisherigen Erörterungen suchten den Unterschied zwischen 
formellen und materiellen Mehrheitsbeschlüssen zu entwickeln und 
legten dar, daß formelle Mehrheitsbeschlüsse ihre Kraft unmöglich 
der Annahme entnehmen können, sie entsprächen dem Willen der 
Mehrheit. 
Nun muß sich aber unsere Besprechung auf die Frage er 
strecken: Warum binden materielle Mehrheitsbeschlüsse? Unter 
stellt, daß ein Beschluß wirklich nicht bloß von der Mehrheit der 
Abstimmenden sondern von jener der Stimmberechtigten oder 
Rechtsunterworfenen gefaßt worden ist, warum bindet er die 
Minderheit? Ich frage natürlicherweise nach dem inneren, nicht 
nach dem äußeren Grund; denn der äußere Grund ist klar: es 
ist befohlen, daß Mehrheitsbeschlüsse die Minderheit binden und 
die Befolgung dieses Befehles wird durch die Staatsgewalt er 
zwungen. Aber wie steht es mit der sachlichen Rechtfertigung 
dieser Bindung der Minderheit an den Willen der Mehrheit? 
Solche Bindung ist, so seltsam es anmuten mag, keineswegs 
selbstverständlich. Unser Vertragsrecht schließt vielmehr die Mehr 
heitsbeschlüsse grundsätzlich aus, kennt nur einstimmige Be 
schlüsse. Wie viele Personen auch an einem Vertragsabschlüsse 
beteiligt sind, sie müssen alle, Mann für Mann und Frau für Frau, 
in allen Punkten des Vertrages miteinander einig sein, sonst kann 
ein Vertrag nicht zustande kommen. Dabei ist es gleichgültig, ob 
die Differenz einen Haupt- oder einen ganz nebensächlichen Punkt 
betrifft. Wenn zehn Personen eine Handelsgesellschaft gründen 
wollen und eine von ihnen opponiert einer einzigen, unwesentlichen 
Bestimmung des Gesellschaftsvertrages, so kann dieser Vertrag nicht 
abgeschlossen werden, ehe nicht die Opposition oder der Opponent 
weggeschaft sind. So haben wir das eigentümliche Resultat: zur 
Weinsgründung ist die Einstimmigkeit der Gründer erforder- 
Hch, zur Vereinsführung genügen Mehrheitsbeschlüsse. Warum? 
weil das Gesetz es befiehlt? Aber warum befiehlt es das Gesetz? 
Es fehlt auch im Staatsleben nicht an Regelungen, die dem 
Grundsätze der bindenden Kraft des Mehrheitsbeschlusses Wider 
streiten. Im Völkerrechte wird häufig Einstimmigkeit gefordert. 
Aber auch Staatsverfassungen mit ähnlichen Anforderungen sind 
ui der Vergangenheit geradezu häufig gewesen. Ich erinnere an 
as Erfordernis der Einstimmigkeit für die deutschen Königs 
wahlen bis in das 14. Jahrhundert, an das Liberum Veto der
	        
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