III.
Die bisherigen Erörterungen suchten den Unterschied zwischen
formellen und materiellen Mehrheitsbeschlüssen zu entwickeln und
legten dar, daß formelle Mehrheitsbeschlüsse ihre Kraft unmöglich
der Annahme entnehmen können, sie entsprächen dem Willen der
Mehrheit.
Nun muß sich aber unsere Besprechung auf die Frage er
strecken: Warum binden materielle Mehrheitsbeschlüsse? Unter
stellt, daß ein Beschluß wirklich nicht bloß von der Mehrheit der
Abstimmenden sondern von jener der Stimmberechtigten oder
Rechtsunterworfenen gefaßt worden ist, warum bindet er die
Minderheit? Ich frage natürlicherweise nach dem inneren, nicht
nach dem äußeren Grund; denn der äußere Grund ist klar: es
ist befohlen, daß Mehrheitsbeschlüsse die Minderheit binden und
die Befolgung dieses Befehles wird durch die Staatsgewalt er
zwungen. Aber wie steht es mit der sachlichen Rechtfertigung
dieser Bindung der Minderheit an den Willen der Mehrheit?
Solche Bindung ist, so seltsam es anmuten mag, keineswegs
selbstverständlich. Unser Vertragsrecht schließt vielmehr die Mehr
heitsbeschlüsse grundsätzlich aus, kennt nur einstimmige Be
schlüsse. Wie viele Personen auch an einem Vertragsabschlüsse
beteiligt sind, sie müssen alle, Mann für Mann und Frau für Frau,
in allen Punkten des Vertrages miteinander einig sein, sonst kann
ein Vertrag nicht zustande kommen. Dabei ist es gleichgültig, ob
die Differenz einen Haupt- oder einen ganz nebensächlichen Punkt
betrifft. Wenn zehn Personen eine Handelsgesellschaft gründen
wollen und eine von ihnen opponiert einer einzigen, unwesentlichen
Bestimmung des Gesellschaftsvertrages, so kann dieser Vertrag nicht
abgeschlossen werden, ehe nicht die Opposition oder der Opponent
weggeschaft sind. So haben wir das eigentümliche Resultat: zur
Weinsgründung ist die Einstimmigkeit der Gründer erforder-
Hch, zur Vereinsführung genügen Mehrheitsbeschlüsse. Warum?
weil das Gesetz es befiehlt? Aber warum befiehlt es das Gesetz?
Es fehlt auch im Staatsleben nicht an Regelungen, die dem
Grundsätze der bindenden Kraft des Mehrheitsbeschlusses Wider
streiten. Im Völkerrechte wird häufig Einstimmigkeit gefordert.
Aber auch Staatsverfassungen mit ähnlichen Anforderungen sind
ui der Vergangenheit geradezu häufig gewesen. Ich erinnere an
as Erfordernis der Einstimmigkeit für die deutschen Königs
wahlen bis in das 14. Jahrhundert, an das Liberum Veto der