Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

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früheren polnischen Republik; jedes Reichstagsmitglied konnte für 
sich allein Beschlußfassungen verhindern. Einigermaßen ähn 
lich ist auch die Vorschrift des Westphälischen Friedens und des 
jüngsten Reichsabschiedes, daß es in Religionsfragen keine Majori- 
sierung geben dürfe, so daß es zu jeder Abänderung des damals 
festgesetzten Besitzstandes in diesen Fragen der Übereinstimmung 
des corpus catolicorum und des corpus evangelicorum bedurfte. 
Spätere Verfassungen haben freilich kaum solche Bestimmungen. 
Aber sie begnügen sich statt dessen bisweilen nicht mit den üb 
lichen Mehrheitsbeschlüssen, sondern verlangen für wichtige Ge 
setze, z. B. für Verfassungsänderungen, bald eine qualifizierte, 
z. B. eine Zweidrittelmehrheit, bald eine Erhöhung des Quorum. 
Die angeführten Beispiele, beweisen jedenfalls so viel, daß 
der Grundsatz von der bindenden Kraft der Mehrheitsbeschlüsse, 
wie nicht allgemein gültig, so nicht selbstverständlich ist, 
sondern der Rechtfertigung bedarf. Wenn unser ganzes Vertrags 
abschlußrecht und ein großer Teil des Völkerrechtes gegen diesen 
Grundsatz opponiert, wenn Staatsverfassungen ihm mehr oder 
weniger Widerstand entgegensetzen, so muß der Satz sich doch 
noch einer Begründung unterziehen, damit er bestehen bleiben 
könne. Daß eine Einrichtung geworden ist und sich ausgebreitet 
hat, das ist zwar ein starker Grund zur Annahme, daß sie einem 
Bedürfnis entsprach und ein sehr starker Grund dagegen, sie 
plötzlich zu ändern. Denn erfahrungsgemäß haben nur organische, 
nicht die plötzlichen Veränderungen Bestand. Aber selbst ein aus 
gedehnter und langwährender Bestand einer Einrichtung enthebt 
ihrer Prüfung nicht. Und darum muß man fragen: warum muß 
sich die Minderheit fügen? 
Da ist es wohl sicher, daß die Mehrheit der Minderheit ihren 
Willen nicht schon deshalb auferlegen darf, weil jene die mehreren 
sind. Denn das würde eine Umschreibung des Satzes sein, daß 
der Stärkere stets Recht habe, daß Gewalt vor Recht gehe. Man 
wird darum anscheinend zur Meinung gedrängt, der Mehrheits 
beschluß binde die Minderheit deshalb, weil jener der weisere sei 
Derartiges kann man ja oft hören: pars major, pars sanior. Aber 
wahr ist’s nicht, auch dann nicht, wenn man davon absieht, daß 
man oft nicht bestimmen kann, welcher von mehreren möglichen 
Beschlüssen der vernünftigere ist; jeder glaubt’s von seinem 1 .er 
schlag. Aber auch davon abgesehen, sind Mehrheitsbeschlüsse 
freilich bisweilen besser, als die von der Minderheit vorge-
	        
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