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früheren polnischen Republik; jedes Reichstagsmitglied konnte für
sich allein Beschlußfassungen verhindern. Einigermaßen ähn
lich ist auch die Vorschrift des Westphälischen Friedens und des
jüngsten Reichsabschiedes, daß es in Religionsfragen keine Majori-
sierung geben dürfe, so daß es zu jeder Abänderung des damals
festgesetzten Besitzstandes in diesen Fragen der Übereinstimmung
des corpus catolicorum und des corpus evangelicorum bedurfte.
Spätere Verfassungen haben freilich kaum solche Bestimmungen.
Aber sie begnügen sich statt dessen bisweilen nicht mit den üb
lichen Mehrheitsbeschlüssen, sondern verlangen für wichtige Ge
setze, z. B. für Verfassungsänderungen, bald eine qualifizierte,
z. B. eine Zweidrittelmehrheit, bald eine Erhöhung des Quorum.
Die angeführten Beispiele, beweisen jedenfalls so viel, daß
der Grundsatz von der bindenden Kraft der Mehrheitsbeschlüsse,
wie nicht allgemein gültig, so nicht selbstverständlich ist,
sondern der Rechtfertigung bedarf. Wenn unser ganzes Vertrags
abschlußrecht und ein großer Teil des Völkerrechtes gegen diesen
Grundsatz opponiert, wenn Staatsverfassungen ihm mehr oder
weniger Widerstand entgegensetzen, so muß der Satz sich doch
noch einer Begründung unterziehen, damit er bestehen bleiben
könne. Daß eine Einrichtung geworden ist und sich ausgebreitet
hat, das ist zwar ein starker Grund zur Annahme, daß sie einem
Bedürfnis entsprach und ein sehr starker Grund dagegen, sie
plötzlich zu ändern. Denn erfahrungsgemäß haben nur organische,
nicht die plötzlichen Veränderungen Bestand. Aber selbst ein aus
gedehnter und langwährender Bestand einer Einrichtung enthebt
ihrer Prüfung nicht. Und darum muß man fragen: warum muß
sich die Minderheit fügen?
Da ist es wohl sicher, daß die Mehrheit der Minderheit ihren
Willen nicht schon deshalb auferlegen darf, weil jene die mehreren
sind. Denn das würde eine Umschreibung des Satzes sein, daß
der Stärkere stets Recht habe, daß Gewalt vor Recht gehe. Man
wird darum anscheinend zur Meinung gedrängt, der Mehrheits
beschluß binde die Minderheit deshalb, weil jener der weisere sei
Derartiges kann man ja oft hören: pars major, pars sanior. Aber
wahr ist’s nicht, auch dann nicht, wenn man davon absieht, daß
man oft nicht bestimmen kann, welcher von mehreren möglichen
Beschlüssen der vernünftigere ist; jeder glaubt’s von seinem 1 .er
schlag. Aber auch davon abgesehen, sind Mehrheitsbeschlüsse
freilich bisweilen besser, als die von der Minderheit vorge-