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schlagenen; aber auch das Umgekehrte ist nicht eben selten und
aus der jüngsten Zeit kann die sogenannte Lex Kemetter über den
Erwerb der deutschösterreichischen Staatsbürgerschaft als ein
bedauerliches Beispiel einer Entgleisung bei den Mehrheits
beschlüssen gelten. Ist es also weder die Gewalt der Zahl noch
die Güte, welche Mehrheitsbeschlüsse rechtfertigt, so erweist sich
das Mehrheitsprinzip danach als sachlich nicht wohl zu begründen.
Weit entfernt davon, ein selbstverständlicher Grundsatz des
Rechtslebens zu sein, bedarf es selbst gar sehr der Erklärung und
der Stütze. Sie steckt nun lediglich in dem Erfahrungssatze, daß
der Mehrheitsgrundsatz der einzige verläßliche, wenn auch
äußerst rohe Behelf ist, um überhaupt zu gesellschaftlichen Be
schlußfassungen zu gelangen und daß Beschlußfassungen im Staats
und sonstigen Gesellschaftsleben unentbehrlich sind.
So wird freilich keine Rechtsordnung auf die Dauer des
Mehrheitsprinzipes entbehren können. Aber es ist eine brüchige
Stütze, die dieses Prinzip der Rechtsordnung bietet, und die
Minderheiten laufen stets Sturm.
Das bisherige Ergebnis ist unerfreulich. Die formellen Mehr
heitsbeschlüsse haben sich als jeder Tragkraft entbehrend gezeigt;
sie sind nur bequem. Und nun stellt sich heraus, daß auch die
materiellen Mehrheitsbeschlüsse im privaten und öffentlichen
Rechte nur die (freilich einzig verfügbaren) Notbehelfe zur Er
möglichung der Geschäftsabwicklung sind.
IV.
Hat unsere Verfassung nicht vielleicht diese Behelfe über
schätzt?
Jedenfalls zeigen sich die Mängel sowohl des formellen
als auch des materiellen Mehrheitsgrundsatzes bei allen Volks
vertretungen am schärfsten und erfolgreichsten. Der Grund hiefür
ist zunächst das System der Repräsentativverfassung.
In einem Verein ist grundsätzlich jedes Mitglied stimm-
erechtigt. Die Vorteile und Nachteile des Mehrheitsprinzipes
kommen darum jedem Mitglied in der gleichen Weise zu. Nicht
ganz so steht es freilich bei manchen Aktiengesellschaften. Zwar,
wenn jede Aktie ein Stimmrecht gibt, wirkt das Mehrheitsprinzip bei
hengesellschaften ebenso wie bei anderen Vereinen. Gewähren
a oer wie gewöhnlich erst 10 oder 20 Stimmen das Stimmrecht, dann
t es Kleinaktionäre ohne ein Stimmrecht, also Personen, die,
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