Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

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schlagenen; aber auch das Umgekehrte ist nicht eben selten und 
aus der jüngsten Zeit kann die sogenannte Lex Kemetter über den 
Erwerb der deutschösterreichischen Staatsbürgerschaft als ein 
bedauerliches Beispiel einer Entgleisung bei den Mehrheits 
beschlüssen gelten. Ist es also weder die Gewalt der Zahl noch 
die Güte, welche Mehrheitsbeschlüsse rechtfertigt, so erweist sich 
das Mehrheitsprinzip danach als sachlich nicht wohl zu begründen. 
Weit entfernt davon, ein selbstverständlicher Grundsatz des 
Rechtslebens zu sein, bedarf es selbst gar sehr der Erklärung und 
der Stütze. Sie steckt nun lediglich in dem Erfahrungssatze, daß 
der Mehrheitsgrundsatz der einzige verläßliche, wenn auch 
äußerst rohe Behelf ist, um überhaupt zu gesellschaftlichen Be 
schlußfassungen zu gelangen und daß Beschlußfassungen im Staats 
und sonstigen Gesellschaftsleben unentbehrlich sind. 
So wird freilich keine Rechtsordnung auf die Dauer des 
Mehrheitsprinzipes entbehren können. Aber es ist eine brüchige 
Stütze, die dieses Prinzip der Rechtsordnung bietet, und die 
Minderheiten laufen stets Sturm. 
Das bisherige Ergebnis ist unerfreulich. Die formellen Mehr 
heitsbeschlüsse haben sich als jeder Tragkraft entbehrend gezeigt; 
sie sind nur bequem. Und nun stellt sich heraus, daß auch die 
materiellen Mehrheitsbeschlüsse im privaten und öffentlichen 
Rechte nur die (freilich einzig verfügbaren) Notbehelfe zur Er 
möglichung der Geschäftsabwicklung sind. 
IV. 
Hat unsere Verfassung nicht vielleicht diese Behelfe über 
schätzt? 
Jedenfalls zeigen sich die Mängel sowohl des formellen 
als auch des materiellen Mehrheitsgrundsatzes bei allen Volks 
vertretungen am schärfsten und erfolgreichsten. Der Grund hiefür 
ist zunächst das System der Repräsentativverfassung. 
In einem Verein ist grundsätzlich jedes Mitglied stimm- 
erechtigt. Die Vorteile und Nachteile des Mehrheitsprinzipes 
kommen darum jedem Mitglied in der gleichen Weise zu. Nicht 
ganz so steht es freilich bei manchen Aktiengesellschaften. Zwar, 
wenn jede Aktie ein Stimmrecht gibt, wirkt das Mehrheitsprinzip bei 
hengesellschaften ebenso wie bei anderen Vereinen. Gewähren 
a oer wie gewöhnlich erst 10 oder 20 Stimmen das Stimmrecht, dann 
t es Kleinaktionäre ohne ein Stimmrecht, also Personen, die, 
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