Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

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Die Gewählten, die Abgeordneten, sollen den Volkswillen 
repräsentieren. Ist das mehr als eine Redewendung? Sie sind 
doch oft nicht von den Wählern, sondern nur von einer Gruppe 
derselben gewählt. Vielleicht sind ganze Parteien aus solchen 
Minderheitswahlen hervorgegangen. Dann ist nicht zu übersehen, 
daß der Abgeordnete weder Abstimmungsaufträge annehmen darf, 
noch Rechenschaft schuldig ist; er hat nicht die Wähler, sondern 
das Volk zu vertreten. Schließlich wirkt erfahrungsgemäß die Zu 
gehörigkeit zu einer Volksvertretung etwas volksentfremdend. Hof 
luft verdirbt, pflegte man zu sagen. So darf man von einer Volks 
vertretung ganz gewiß nicht reden; es ist gar kein Grund hiezu. 
Aber die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Personenkreis und 
innerhalb desselben zu einem Parteiklub, das Eingeiebtsein in 
dessen Gedankenkreise erhebt zwar den Abgeordneten an Ein 
sicht oft über die Wähler und macht ihn besonnen, entfremdet 
ihn aber auch dem Willen und den Wünschen des Volkes. Dahin 
gestellt, ob diese Erscheinung ein Vorteil oder ein Schade ist, sie 
besteht. Und in den Tagen des Badenisturmes hat es sich gezeigt, 
wie ein Volk gegen seine Abgeordneten aufzustehen vermag. 
Beschlüsse einer Volksvertretung geben denn auch erfahrungs 
gemäß den Volkswillen nicht immer wieder. Welche Bedeutung 
danach bloß formelle Mehrheitsbeschlüsse einer Volksvertretung 
als der Ausdruck des Volkswillens beanspruchen können, mag man 
leicht ermessen und kann es auch am Untergange mächtiger parla 
mentarischer Parteien lernen. Und doch wird die Kraft solchei 
Beschlüsse aus dem Satz abgeleitet, daß die formellen Mehrheits 
beschlüsse den Volkswillen repräsentieren! 
V. 
Die dargestellte Art des Repräsentativsystems gestattet also 
nur eine mangelhafte Ausübung der Gewalten. Sie setzt rechtlich 
an die Stelle der Anteilnahme aller an der Staatsverwaltung jene 
der Mehrheit sowohl bei den Wahlen als auch bei den Beschluß 
fassungen in den Vertretungskörpern selbst. Tatsächlich genüg 4 
sogar da und dort die bloß formelle Mehrheit, also in Wahrheit die 
Minderheit. 
Es handelt sich da großen Teiles um Übelstände, die bisher 
beinahe jedem Wahlsystem eigen waren. In Deutschösterreich 
sind dieselben durch das gewählte Wahlsystem allerdings ver 
größert worden.
	        
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