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Die Gewählten, die Abgeordneten, sollen den Volkswillen
repräsentieren. Ist das mehr als eine Redewendung? Sie sind
doch oft nicht von den Wählern, sondern nur von einer Gruppe
derselben gewählt. Vielleicht sind ganze Parteien aus solchen
Minderheitswahlen hervorgegangen. Dann ist nicht zu übersehen,
daß der Abgeordnete weder Abstimmungsaufträge annehmen darf,
noch Rechenschaft schuldig ist; er hat nicht die Wähler, sondern
das Volk zu vertreten. Schließlich wirkt erfahrungsgemäß die Zu
gehörigkeit zu einer Volksvertretung etwas volksentfremdend. Hof
luft verdirbt, pflegte man zu sagen. So darf man von einer Volks
vertretung ganz gewiß nicht reden; es ist gar kein Grund hiezu.
Aber die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Personenkreis und
innerhalb desselben zu einem Parteiklub, das Eingeiebtsein in
dessen Gedankenkreise erhebt zwar den Abgeordneten an Ein
sicht oft über die Wähler und macht ihn besonnen, entfremdet
ihn aber auch dem Willen und den Wünschen des Volkes. Dahin
gestellt, ob diese Erscheinung ein Vorteil oder ein Schade ist, sie
besteht. Und in den Tagen des Badenisturmes hat es sich gezeigt,
wie ein Volk gegen seine Abgeordneten aufzustehen vermag.
Beschlüsse einer Volksvertretung geben denn auch erfahrungs
gemäß den Volkswillen nicht immer wieder. Welche Bedeutung
danach bloß formelle Mehrheitsbeschlüsse einer Volksvertretung
als der Ausdruck des Volkswillens beanspruchen können, mag man
leicht ermessen und kann es auch am Untergange mächtiger parla
mentarischer Parteien lernen. Und doch wird die Kraft solchei
Beschlüsse aus dem Satz abgeleitet, daß die formellen Mehrheits
beschlüsse den Volkswillen repräsentieren!
V.
Die dargestellte Art des Repräsentativsystems gestattet also
nur eine mangelhafte Ausübung der Gewalten. Sie setzt rechtlich
an die Stelle der Anteilnahme aller an der Staatsverwaltung jene
der Mehrheit sowohl bei den Wahlen als auch bei den Beschluß
fassungen in den Vertretungskörpern selbst. Tatsächlich genüg 4
sogar da und dort die bloß formelle Mehrheit, also in Wahrheit die
Minderheit.
Es handelt sich da großen Teiles um Übelstände, die bisher
beinahe jedem Wahlsystem eigen waren. In Deutschösterreich
sind dieselben durch das gewählte Wahlsystem allerdings ver
größert worden.