Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

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Es soll nicht davon die Rede sein, ob Ein- oder Zweikammer 
system und ob ein Staat mit oder ohne einen — sagen wir — 
Obmann vorzuziehen sei; das erforderte eigene Untersuchungen. 
Auch das allgemeine und gleiche Wahlrecht einschließlich seiner 
Ausdehnung durch die Herabsetzung des Alters für die Wahl 
fähigkeit und durch die Erteilung des Wahlrechtes an die Frauen 
soll hier nicht erörtert werden. Denn es vergrößert die Übelstände 
des Repräsentativsystems nicht. Freilich wäre es wünschenswert, 
das Wahlrecht nur den hiezu Befähigten zu geben; aber es fehlt 
an einem praktikablen Merkmale zur Feststellung dieser Fähigkeit, 
man kann doch verständigerweise keine Bildungsprüfung zur Er 
mittlung dieser Fähigkeit einführen. So muß man diesen Mangel 
des allgemeinen Wahlrechtes in den Kauf nehmen. Ebenso muß 
man sich gegenüber dem zweiten Bedenken verhalten, das das 
allgemeine Wahlrecht zur Folge hat, daß die großen Wählermassen 
entscheiden und daß darum Parteischattierungen ebenso selten 
Platz haben als Individualitäten: Das allgemeine und gleiche 
Wahlrecht nivelliert. Und man macht darum unter seiner Herr 
schaft fast allerorten die Erfahrung, daß bedeutende Persönlich 
keiten deshalb nicht in die Volksvertretung gelangen oder dort 
nicht zu Einfluß kommen, weil sie sich keiner der großen Parteien 
anschließen können oder mögen; der Fall Ofner, dessen Aus 
scheiden auch seine Gegner bedauerten, ist dafür ein belehrendes 
Beispiel. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist also keines 
wegs bedenkenfrei. Aber diese Bedenken wiegen gegenüber den 
großen Zeitströmungen leicht, die zum allgemeinen und gleichen 
Wahlrechte geführt haben. Gegenströmungen, die in der letzten 
Zeit von links her, z. B. in Rußland und Ungarn, gegen diese Art 
des Wahlrechtes entstanden sind, vermochten nicht aufzukommen 
und rufen größere Bedenken wach, als das allgemeine und gleiche 
Wahlrecht sie ergibt. 
Die Übelstände dieses Wahlsystems vergrößern sich auch 
nicht durch das System der Listenwahlen; diese Listenwahlen ver 
schärfen die Mängel des Regierens nach dem Mehrheitsgrund 
satze nicht. 
Dagegen ist allerdings, wie schon früher entwickelt, der 
Mangel der Wahlpflicht bedenklich, weil er die Gefahr der 
Minderheitsherrschaft steigert. Die wenigeren, aber organisierten 
Wähler tragen es über die vielen nicht organisierten Wähler weg. 
Und darüber hilft die Erwägung nicht hinweg, daß es allen Wählern
	        
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