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Es soll nicht davon die Rede sein, ob Ein- oder Zweikammer
system und ob ein Staat mit oder ohne einen — sagen wir —
Obmann vorzuziehen sei; das erforderte eigene Untersuchungen.
Auch das allgemeine und gleiche Wahlrecht einschließlich seiner
Ausdehnung durch die Herabsetzung des Alters für die Wahl
fähigkeit und durch die Erteilung des Wahlrechtes an die Frauen
soll hier nicht erörtert werden. Denn es vergrößert die Übelstände
des Repräsentativsystems nicht. Freilich wäre es wünschenswert,
das Wahlrecht nur den hiezu Befähigten zu geben; aber es fehlt
an einem praktikablen Merkmale zur Feststellung dieser Fähigkeit,
man kann doch verständigerweise keine Bildungsprüfung zur Er
mittlung dieser Fähigkeit einführen. So muß man diesen Mangel
des allgemeinen Wahlrechtes in den Kauf nehmen. Ebenso muß
man sich gegenüber dem zweiten Bedenken verhalten, das das
allgemeine Wahlrecht zur Folge hat, daß die großen Wählermassen
entscheiden und daß darum Parteischattierungen ebenso selten
Platz haben als Individualitäten: Das allgemeine und gleiche
Wahlrecht nivelliert. Und man macht darum unter seiner Herr
schaft fast allerorten die Erfahrung, daß bedeutende Persönlich
keiten deshalb nicht in die Volksvertretung gelangen oder dort
nicht zu Einfluß kommen, weil sie sich keiner der großen Parteien
anschließen können oder mögen; der Fall Ofner, dessen Aus
scheiden auch seine Gegner bedauerten, ist dafür ein belehrendes
Beispiel. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist also keines
wegs bedenkenfrei. Aber diese Bedenken wiegen gegenüber den
großen Zeitströmungen leicht, die zum allgemeinen und gleichen
Wahlrechte geführt haben. Gegenströmungen, die in der letzten
Zeit von links her, z. B. in Rußland und Ungarn, gegen diese Art
des Wahlrechtes entstanden sind, vermochten nicht aufzukommen
und rufen größere Bedenken wach, als das allgemeine und gleiche
Wahlrecht sie ergibt.
Die Übelstände dieses Wahlsystems vergrößern sich auch
nicht durch das System der Listenwahlen; diese Listenwahlen ver
schärfen die Mängel des Regierens nach dem Mehrheitsgrund
satze nicht.
Dagegen ist allerdings, wie schon früher entwickelt, der
Mangel der Wahlpflicht bedenklich, weil er die Gefahr der
Minderheitsherrschaft steigert. Die wenigeren, aber organisierten
Wähler tragen es über die vielen nicht organisierten Wähler weg.
Und darüber hilft die Erwägung nicht hinweg, daß es allen Wählern