Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

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Listen zu Ende. Die Parteileitung wählt nunmehr die Kandidaten 
nach Belieben aus; den Parteileitungen, nicht den Wählern müssen 
darum die Bewerber genehm sein; denn sonst gelangen sie nicht 
auf die Liste und dürfen dann nicht gewählt werden. Freilich kann 
jeder Kandidat eine Partei neu bilden und sich von dieser kandi 
dieren lassen; aber die Wahlen zur konstituierenden National 
versammlung haben in Wien gezeigt, daß dies ein praktisch aus 
sichtsloser Versuch ist. Es bleibt also dabei, daß die bestehenden 
Parteileitungen die Kandidaten bestimmen. Die Wähler sind dann 
an deren Listen gebunden, dürfen niemanden hinzusetzen, keinen 
Namen ersetzen, keinen streichen; sonst ist der Stimmzettel un 
gültig. Auch wenn etwa den Wählern einer bestimmten Partei 
gerade einer der vorgeschlagenen Kandidaten ganz und gar nicht 
paßt, sind die Wähler gebunden; sie dürfen die Partei wählen“ 
nicht die Kandidaten; paßt ihnen ein Kandidat nicht, so haben sie 
nur die Wahl, der Partei oder ihrem Gewissen untreu zu werden. 
Man sage nicht, daß es sich da um bloß ausgedachte Gefahren 
handle; bei den letzten Wahlen in Wien standen in einem Bezirke 
Tausende von Wählern vor einem solchen Konflikte. 
Das Ideal der gebundenen Listenwahl ist: der Stimmzettel 
trägt gar keinen Namen von Kandidaten, sondern nur mehr die 
Parteibezeichnung. Dieses Ideal ist bei den letzten Wahlen zum 
niederösterreichischen Landtag erreicht worden. Wir haben also 
unpersönliche Wahlen. 
Die Bedenken gegen dieses System werden nun durch die 
Unverantwortlichkeit der Parteileitungen verstärkt. Partei 
leitungen sind ja keine Behörden. Jede Gruppe von Personen kann 
sich selbst, kraft eigenen Willens, als eine Parteileitung zusammen 
setzen und macht dann Programme und Kandidaten. Das gab 
es freilich auch früher; aber unter der Herrschaft der ge 
bundenen Listenwahl kann ein solches Parteiklüngelwesen ungleich 
besser als früher gedeihen. Nun gibt es allerdings gut organisierte 
Parteien und diese haben dann auch gut zusammengesetzte und 
verantwortliche Parteileitungen. Aber derartiges ist nur wenigen 
großen Parteien möglich; denn andere bringen den erforderlichen 
Apparat nicht auf. Und darin, daß nur einige große Parteien gut 
organisierte Leitungen aufbringen, ist kein Vorteil für den Betrieb 
der Staatsgeschäfte zu erblicken. Es macht zwar das Wählen und 
dann auch das Regieren bequem. Aber die Wähler und der größte 
Teil der Gewählten werden der selbständigen politischen Tätigkeit
	        
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