Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

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des individuellen Nachdenkens über die Staatsaufgaben und deren 
Lösung enthoben. 
Behalten wir das System der gebundenen Wahllisten auf die 
Dauer bei, so kommen wir infolgedessen dann zu einer Einrichtung, 
ähnlich wie das alte Heer sie bot: viel Mannschaft, viel Dis 
ziplin, wenig Offiziere als Herren. Das allgemeine und gleiche 
Wahlrecht hat seiner Natur nach, wie schon gesagt, die Tendenz 
zu nivellieren; das System der gebundenen Listen verschärft sie 
erheblich. 
VI. 
Die Kritik ist zu Ende. Ihr Ergebnis ist nicht erfreulich. Die 
Volksvertretung ist im demokratischen Staat als das ausübende 
Organ des Volkes gedacht: das Volk handle durch seine Re 
präsentanten, die Abgeordneten repräsentieren den Volkswillen. 
In diesem Zusammenhänge zwischen dem Volk und der Volks 
vertretung wird mit gutem Grunde die Rechtfertigung dafür 
erblickt, daß nicht das Volk, sondern die Volksvertretung herrsche. 
Aber wie stellt sich nun die Ausführung dieses Gedankens dar? 
Keine Wahlpflicht, keine Mindestzahl der erschienenen Wähler 
zur Gültigkeit der Wahl (kein Quorum). Mehrheitswahlen, die dazu 
noch Minderheitswahlen sein können. Keine Auswahl der Abgeord 
neten durch die Wähler, sondern eine solche durch die Partei 
leitungen. Keine Abstimmungspflicht der Abgeordneten in der 
Volksvertretung. Mehrheitsbeschlüsse der Vertretung, die dazu 
noch Minderheitsbeschlüsse sein können, haben Gesetzeskraft. 
Mir erscheint dieses Bild fast als eine Verzerrung des Ge 
dankens der Volksvertretung; nicht das Volk, nicht seine Mehr 
heit, eine Minderheit herrscht. Es ist eine Herrschaft der 
Wenigen. 
Nun gibt es freilich Personen, die da behaupten, es sei dies 
stets so gewesen; stets hätten, unter welcher Staatsform immer, 
nur einige Personen die Herrschaft wirklich ausgeübt; stets hätten 
auch in demokratischen Staaten nur die wenigen Parteiführer ge - 
herrscht. Man muß das zugeben; der Hinweis auf Lloyd George 
und Clemenceau genügt. Aber daraus folgt nichts für die Zukunft; 
hieße es doch auf jeden Fortschritt verzichten, wollte man ihn 
deshalb ablehnen, weil die durch ihn beabsichtigten Einrichtungen 
noch nicht da waren. So sicherlich, aller Erfahrung gemäß, nun 
organische Fortentwicklungen bestehender Zustände Aussicht
	        
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