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des individuellen Nachdenkens über die Staatsaufgaben und deren
Lösung enthoben.
Behalten wir das System der gebundenen Wahllisten auf die
Dauer bei, so kommen wir infolgedessen dann zu einer Einrichtung,
ähnlich wie das alte Heer sie bot: viel Mannschaft, viel Dis
ziplin, wenig Offiziere als Herren. Das allgemeine und gleiche
Wahlrecht hat seiner Natur nach, wie schon gesagt, die Tendenz
zu nivellieren; das System der gebundenen Listen verschärft sie
erheblich.
VI.
Die Kritik ist zu Ende. Ihr Ergebnis ist nicht erfreulich. Die
Volksvertretung ist im demokratischen Staat als das ausübende
Organ des Volkes gedacht: das Volk handle durch seine Re
präsentanten, die Abgeordneten repräsentieren den Volkswillen.
In diesem Zusammenhänge zwischen dem Volk und der Volks
vertretung wird mit gutem Grunde die Rechtfertigung dafür
erblickt, daß nicht das Volk, sondern die Volksvertretung herrsche.
Aber wie stellt sich nun die Ausführung dieses Gedankens dar?
Keine Wahlpflicht, keine Mindestzahl der erschienenen Wähler
zur Gültigkeit der Wahl (kein Quorum). Mehrheitswahlen, die dazu
noch Minderheitswahlen sein können. Keine Auswahl der Abgeord
neten durch die Wähler, sondern eine solche durch die Partei
leitungen. Keine Abstimmungspflicht der Abgeordneten in der
Volksvertretung. Mehrheitsbeschlüsse der Vertretung, die dazu
noch Minderheitsbeschlüsse sein können, haben Gesetzeskraft.
Mir erscheint dieses Bild fast als eine Verzerrung des Ge
dankens der Volksvertretung; nicht das Volk, nicht seine Mehr
heit, eine Minderheit herrscht. Es ist eine Herrschaft der
Wenigen.
Nun gibt es freilich Personen, die da behaupten, es sei dies
stets so gewesen; stets hätten, unter welcher Staatsform immer,
nur einige Personen die Herrschaft wirklich ausgeübt; stets hätten
auch in demokratischen Staaten nur die wenigen Parteiführer ge -
herrscht. Man muß das zugeben; der Hinweis auf Lloyd George
und Clemenceau genügt. Aber daraus folgt nichts für die Zukunft;
hieße es doch auf jeden Fortschritt verzichten, wollte man ihn
deshalb ablehnen, weil die durch ihn beabsichtigten Einrichtungen
noch nicht da waren. So sicherlich, aller Erfahrung gemäß, nun
organische Fortentwicklungen bestehender Zustände Aussicht