Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

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auf Bestand haben, ebenso sicher sind solche Fortentwicklungen 
unerläßlich, sollen nicht Erstarrung oder Revolution kommen. 
Eine andere Erwägung geht dahin, daß der Mehrheitsgrund 
satz die unantastbare Grundlage einer gerechten Gesellschafts 
verfassung sei. Schon Marx ist von diesem Gedanken ausgegangen 
und in der „Arbeiter-Zeitung” ist er vor einigen Wochen in zwei, 
übrigens vortrefflich geschriebenen Artikeln ganz unbedenklich 
und vorbehaltlos als die Grundlage der Gedankenoperation benützt 
worden. Einer der Hauptvorwürfe, den die Presse der bürger 
lichen und sozialdemokratischen Parteirichtungen gegen die Sparta 
kisten geltend macht, ist der, daß sie die Minderheit darstellen 
und dennoch ihren Willen der Mehrheit aufdrängen wollen. Wer 
an das Prinzip der Mehrheit als an ein Dogma glaubt, mit dem 
kann nun freilich nicht diskutiert werden. Aber auf dem Gebiete 
der Politik gibt es ebensowenig berechtigte Dogmen als auf jenem 
der Wissenschaft. 
Wer nun unseren Erwägungen zustimmt, daß das bisher ge 
übte System der Volksvertretung zur wahrhaften Ausübung der 
Volkssouveränität nicht geeignet sei, der muß darum nach Mitteln 
suchen, die Mängel zu verbessern. 
Es wird zwar niemand daran denken dürfen, das Mehrheits 
prinzip durch das Prinzip des individuellen Willens zu ersetzen 
und auch daran sollte man nicht denken, an die Stelle des Mehr- 
heitsprinzipes jenes der Herrschaft irgend einer Minderheit zu 
setzen, etwa an die Stelle der früheren Herrschaft der Aristokraten 
oder der Soldaten jene der Fabriksarbeiter. Denn das hieße die 
übelstände des Mehrheitsprinzipes verschärfen. Aber man wird 
Mittel und Wege suchen müssen, um die Übelstände der jetzigen 
Durchführung des Mehrheitsprinzipes zu mildern. Sie zu be 
heben wird freilich nicht gelingen; es ist allen menschlichen Ein 
richtungen eigen, daß sie die ihnen gestellte Aufgabe nicht voll 
ständig zu erfüllen vermögen. Wer anderes verspricht, wer, um 
den Ausdruck eines modernen Buches zu gebrauchen, die Utopien 
gesellschaftsfähig geworden glaubt und darum durchsetzen will, 
der ist eben — ein Utopist. 
Aber wenn auch nicht alles erreicht werden kann, um die 
Volksvertretung restlos durchzusetzen, so kann doch vieles 
geschehen, um sie weit mehr durchzusetzen, als es bisher der 
Fall ist. 
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