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auf Bestand haben, ebenso sicher sind solche Fortentwicklungen
unerläßlich, sollen nicht Erstarrung oder Revolution kommen.
Eine andere Erwägung geht dahin, daß der Mehrheitsgrund
satz die unantastbare Grundlage einer gerechten Gesellschafts
verfassung sei. Schon Marx ist von diesem Gedanken ausgegangen
und in der „Arbeiter-Zeitung” ist er vor einigen Wochen in zwei,
übrigens vortrefflich geschriebenen Artikeln ganz unbedenklich
und vorbehaltlos als die Grundlage der Gedankenoperation benützt
worden. Einer der Hauptvorwürfe, den die Presse der bürger
lichen und sozialdemokratischen Parteirichtungen gegen die Sparta
kisten geltend macht, ist der, daß sie die Minderheit darstellen
und dennoch ihren Willen der Mehrheit aufdrängen wollen. Wer
an das Prinzip der Mehrheit als an ein Dogma glaubt, mit dem
kann nun freilich nicht diskutiert werden. Aber auf dem Gebiete
der Politik gibt es ebensowenig berechtigte Dogmen als auf jenem
der Wissenschaft.
Wer nun unseren Erwägungen zustimmt, daß das bisher ge
übte System der Volksvertretung zur wahrhaften Ausübung der
Volkssouveränität nicht geeignet sei, der muß darum nach Mitteln
suchen, die Mängel zu verbessern.
Es wird zwar niemand daran denken dürfen, das Mehrheits
prinzip durch das Prinzip des individuellen Willens zu ersetzen
und auch daran sollte man nicht denken, an die Stelle des Mehr-
heitsprinzipes jenes der Herrschaft irgend einer Minderheit zu
setzen, etwa an die Stelle der früheren Herrschaft der Aristokraten
oder der Soldaten jene der Fabriksarbeiter. Denn das hieße die
übelstände des Mehrheitsprinzipes verschärfen. Aber man wird
Mittel und Wege suchen müssen, um die Übelstände der jetzigen
Durchführung des Mehrheitsprinzipes zu mildern. Sie zu be
heben wird freilich nicht gelingen; es ist allen menschlichen Ein
richtungen eigen, daß sie die ihnen gestellte Aufgabe nicht voll
ständig zu erfüllen vermögen. Wer anderes verspricht, wer, um
den Ausdruck eines modernen Buches zu gebrauchen, die Utopien
gesellschaftsfähig geworden glaubt und darum durchsetzen will,
der ist eben — ein Utopist.
Aber wenn auch nicht alles erreicht werden kann, um die
Volksvertretung restlos durchzusetzen, so kann doch vieles
geschehen, um sie weit mehr durchzusetzen, als es bisher der
Fall ist.
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