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daß bloß formelle Mehrheitsbeschlüsse zustande kommen. Das
wird schon ein erheblicher Gewinn sein. Bedeutsamer noch ist,
daß dann die Argumente im Hause werden wirken können und
daß die Bedeutung der Ausschußberatungen, an denen doch nur
ein Teil der Abgeordneten teilzunehmen berechtigt ist, auf das
richtige Niveau der lediglich vorbereitenden Beratungen herab
gedrückt wird. Vor mehr als einem Menschenalter hat ein damals
sehr bekannter Reichsratsabgeordneter, Greuter, gesagt: „eine
gute Rede vermöge vielleicht seine Meinung, gewiß aber nicht
seine Abstimmung zu ändern.” Dafür wurde er vielfach angegriffen.
Wir sind jetzt viel weiter gekommen. Heutzutage hören manche
Abgeordnete die Reden der Gegenpartei gar nicht mehr an; man
ist derart weit auf dem unrichtigen Wege fortgewandelt, daß es
bei der letzten Wahlbewegung als rühmlich hervorgehoben wurde,
daß gegnerische Wahlversammlungen gar nicht besucht und daher
nicht gestört würden; man entschloß sich also, den Gegner gar
nicht anzuhören und betrachtete das als politischen Fortschritt.
Vielfach beherrschen die Klubs das Haus, nach ihnen die
Ausschüsse. Das ist ein außerordentlicher Schade, sowohl für
die Qualität der Debatten, als auch für die Beschlüsse; denn es
schiebt die Abgeordneten in den Gedankenkreis der Gesinnungs
genossen, schneidet ihnen gewissermaßen den Zutritt der freien
Luft ab und entwöhnt und enthebt sie damit nicht selten des
selbständigen politischen Denkens. Alle diese Übelstände hören
zwar nicht auf, wenn die Anwesenheits- und Abstimmungspflicht
der Abgeordneten eingeführt wird, werden aber erheblich ver
ringert. Freilich werden die Haussitzungen durch solche Be
lebungen voraussichtlich vermehrt und verlängert werden. Das
Regieren wird nicht bequemer sein als jetzt. Aber es ist ja selbst
verständlich, daß die Bequemlichkeit kein wünschenswerter Ge
setzgebungsfaktor ist, wie er denn auch noch von niemandem als
ei n solcher geltend gemacht wurde.
Immerhin ist durch die bisher vorgeschlagene Reform nicht
®ehr zu erreichen, als daß an die Stelle der formellen die mate
riellen Mehrheitsbeschlüsse treten und daß diese individueller als
bisher erwogen sind. Das ist nicht wenig und es wird das An-
se ben und den Rückhalt der Volksvertretung im Volke sicherlich
beben. Aber es ist noch nicht genug.
Das Wahlsystem muß geändert werden, damit das Volk
wirklich repräsentiert werde.