Full text: 22. Jahrbuch der Hochschule für Welthandel (22)

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daß bloß formelle Mehrheitsbeschlüsse zustande kommen. Das 
wird schon ein erheblicher Gewinn sein. Bedeutsamer noch ist, 
daß dann die Argumente im Hause werden wirken können und 
daß die Bedeutung der Ausschußberatungen, an denen doch nur 
ein Teil der Abgeordneten teilzunehmen berechtigt ist, auf das 
richtige Niveau der lediglich vorbereitenden Beratungen herab 
gedrückt wird. Vor mehr als einem Menschenalter hat ein damals 
sehr bekannter Reichsratsabgeordneter, Greuter, gesagt: „eine 
gute Rede vermöge vielleicht seine Meinung, gewiß aber nicht 
seine Abstimmung zu ändern.” Dafür wurde er vielfach angegriffen. 
Wir sind jetzt viel weiter gekommen. Heutzutage hören manche 
Abgeordnete die Reden der Gegenpartei gar nicht mehr an; man 
ist derart weit auf dem unrichtigen Wege fortgewandelt, daß es 
bei der letzten Wahlbewegung als rühmlich hervorgehoben wurde, 
daß gegnerische Wahlversammlungen gar nicht besucht und daher 
nicht gestört würden; man entschloß sich also, den Gegner gar 
nicht anzuhören und betrachtete das als politischen Fortschritt. 
Vielfach beherrschen die Klubs das Haus, nach ihnen die 
Ausschüsse. Das ist ein außerordentlicher Schade, sowohl für 
die Qualität der Debatten, als auch für die Beschlüsse; denn es 
schiebt die Abgeordneten in den Gedankenkreis der Gesinnungs 
genossen, schneidet ihnen gewissermaßen den Zutritt der freien 
Luft ab und entwöhnt und enthebt sie damit nicht selten des 
selbständigen politischen Denkens. Alle diese Übelstände hören 
zwar nicht auf, wenn die Anwesenheits- und Abstimmungspflicht 
der Abgeordneten eingeführt wird, werden aber erheblich ver 
ringert. Freilich werden die Haussitzungen durch solche Be 
lebungen voraussichtlich vermehrt und verlängert werden. Das 
Regieren wird nicht bequemer sein als jetzt. Aber es ist ja selbst 
verständlich, daß die Bequemlichkeit kein wünschenswerter Ge 
setzgebungsfaktor ist, wie er denn auch noch von niemandem als 
ei n solcher geltend gemacht wurde. 
Immerhin ist durch die bisher vorgeschlagene Reform nicht 
®ehr zu erreichen, als daß an die Stelle der formellen die mate 
riellen Mehrheitsbeschlüsse treten und daß diese individueller als 
bisher erwogen sind. Das ist nicht wenig und es wird das An- 
se ben und den Rückhalt der Volksvertretung im Volke sicherlich 
beben. Aber es ist noch nicht genug. 
Das Wahlsystem muß geändert werden, damit das Volk 
wirklich repräsentiert werde.
	        
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