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alte System griff aus allen Interessengruppen nur einige wenige
heraus, in die sich dann alle Wähler einteilen lassen mußten;
überdies beteilte es die einzelnen Stände weder nach der Zahl
der Mitglieder, noch nach der wirtschaftlichen oder geistigen Be
deutung der Gruppe für den Staat, sondern nur nach ihrer poli
tischen Bedeutung mit Mandaten: das System der historischen
Interessenvertretung war ein Ausdruck der politischen
Machtverhältnisse, das System der idealen Interessen
vertretung soll die gleichmäßige Vertretung aller Inter
essengruppen ohne Rücksicht auf ihre politische Machtbedeutung
bewirken.
Es ist dennoch niemals praktisch ausgeführt worden. Das ist
nicht eben merkwürdig. Herrschende politische Parteien können
an diesem Systeme keinen Gefallen finden; es kann sich darum
nur in Zeiten der nationalen Erhebung oder der nationalen Not
durchsetzen, in denen die Parteien sich erfahrungsgemäß über
den Parteistandpunkt erheben können. Überdies aber hat man
gegen dieses System in früheren Jahrzehnten geltend gemacht
eine Organisation aller Interessengruppen werde nicht durchführ
bar sein. Dieses Argument ist jetzt freilich hinfällig. Denn in der
Zeit der Arbeiterorganisationen, der Unternehmerv.erbände, des
Vereines der Hausbesitzer, jenes der Bühnenangehörigen, der
Richtervereinigung u. a. m. gibt es keine Schwierigkeiten dieser
Art mehr. Wir haben es zwar im Kriege durchaus nicht ver
standen, Handel und Verkehr zu organisieren; aber die Organi
sation der Menschengruppen ist sehr vorgeschritten; es hat sich
der Menschen sogar eine außerordentliche Organisationslust und
Organisationsfähigkeit bemächtigt und diese Tendenz zeigt nicht
zum wenigsten, daß in ihrer Verfolgung der Weg zur Ausbildung
des Verfassungslebens liegt.
Das System der idealen Interessenvertretung kann freilich
seine großen Vorteile nur dann völlig entfalten, wenn jede Inter
essengruppe durch Personen ihres Vertrauens repräsentiert wird;
die politische Parteistellung der Gewählten mag verschieden sein,
aber Vertrauensmänner müssen sie sein. Darum muß das
ohnehin schwerlich haltbare System der gebundenen Listen
durch jenes der freien Listen ersetzt werden. Daß die Wahl
technik und das Wahlgeschäft hiedurch erschwert werden, ist
richtig, aber unbeachtlich. Bedenklicher wird manchem erscheinen,
daß infolge des neuen Systems das Nivellieren, das Schablonieren